Ich habe viele Namen. Ich bin der Madretscher Schandfleck. Der Littering-Ecken am Konkordiaweg. Der ewige Abfallhaufen Biels.
Die meisten Menschen beachten mich kaum. So das Mädchen, mit den langen schwarzen Haaren, welches an mir vorbeirennt, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Nicht minder der ältere Herr in seinen traditionellen arabischen Klamotten. Zwischen Mundschutz und Turban erkenne ich kaum etwas vom Gesicht, doch im Vorbeigehen grüsst er freundlich. Nicht mich, nein, nur eine Passantin, die ihm beiläufig zunickt. An diesem kaltgrauen Tag komme ich nicht besonders zur Geltung. Im Sommer wird mein ordinärer Kehrichtgeruch durch die Hitze verstärkt und der schwarze Plastik meiner Abfallsäcke glänzt in der Sonne. Bis vor einigen Tagen hat eine Benzinlache, die sich über das ganze Strässchen erstreckte, meinen Geruch mit ihrem übertüncht. Sie ist restlos verdunstet, ich aber bleibe beharrlich.
Der Wandel der Zeit geht auch an mir nicht spurlos vorbei. Früher bestand ich überwiegend aus Haushaltsabfällen, auffällig vielen Zigarettenstummeln, dazu passenden Billigbierdosen und kleinen gläsernen Schnapsflaschen, die hie und da zu Bruch gehen. Vor einigen Monaten kamen Hygienemasken und Plastikhandschuhe hinzu. Und vor kurzem Autoreifen. Berge von Autoreifen. Vielleicht sind darunter auch Autoreifen, die durch meine eigenen Scherben zu Schaden kamen. Die vielen Autofahrer, die an diesem spätherbstlichen Nachmittag vorbeifahren, ignorieren meine kleine Seitenstrasse komplett. Ihre Augen sind konzentriert auf die Strasse gerichtet.
Viele Menschen die die Gegend hier kennen, haben begonnen mein Strässchen zu meiden, aus nachvollziehbaren Gründen. Zwei junge Männer in sportlicher Kleidung gehen vorbei und einer schaut mich lange an. Vielleicht überlegt er, ob er die Bierdose, die er in der Hand hält, gleich hier bei mir entsorgen soll. Oder er ist überrascht mich zu sehen, obwohl ich berühmt bin. Mehrmals wurde ich vom SRF gefilmt, um Biel in einem ganz miesen Licht darzustellen. Einflussreich bin ich auch. Ein paar Meter weiter habe ich Zuwachs bekommen. Ein weiterer Berg von Abfallsäcken ohne gültige Vignette ist dort entstanden. Neben ihm wirke ich beinahe unscheinbar.
Ich befinde mich auf einer Privatstrasse, für die vier verschiedene Eigentümer zuständig sind, sich aber nicht um mich scheren. Einer von ihnen hat es vor langer Zeit probiert. Er hat den ganzen Abfall abgetragen und entsorgt. Zu der Zeit verfügte ich über mehrere Kubikmeter Abfall und er hatte einen ganzen Tag dafür gebraucht. Doch ich bin einfach wiedergekommen. Ein Teil meines Bestandes lehnt an der Mauer eines Gebäudes, welches vor kurzem verkauft wurde. Der russische Architekt aus Zürich hat mich mit dem Gebäude dazu erworben, doch kümmere ich ihn nicht. Vielleicht wird die Stadt irgendwann intervenieren.
Den meisten Menschen bin ich egal geworden. Des nachts besuchen mich hungrige Ratten und fressen Löcher in den Plastik um an Nahrung zu kommen. Auch die schwarz-weisse Katze, die gerade um die Ecke schleicht, wird wieder kommen. Spätestens wenn frisches Kebabfleisch daliegt.
Diesen Gastbeitrag verfasste Ursi Grimm, Mitstudentin von "yours truly", im Rahmen der Aufgabenstellung "schreibt ein Schaufenster" in der Grundstufe Journalismus an der SAL.
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