Im Januar 2019 wollte mein Freund nicht mehr leben. Der Suizid war akribisch geplant, aber seine Dauerkifferei hatte ihn lethargisch gemacht. Bevor er dann zur Tat geschritten war, gab er sich eine letzte Chance und suchte Hilfe im Notfall des Berner Inselspitals. Er verbrachte die nächsten paar Wochen freiwillig in stationärer Akutpsychiatrie, gefolgt von einigen Monaten in einem Ambulatorium.
Bern - Nach längerer Funkstille treffe ich meinen Freund in seiner kleinen, spartanisch möblierten und eher schmucklosen Einzimmerwohnung. Sie liegt im Holligenquartier, nahe des heruntergekommenen Loryplatzes. Wir sitzen am kleinen, wackligen Küchentisch auf reichlich unbequemen Ikeastühlen, trinken Leitungswasser und reden. Es ist Spätsommer 2019 und mein Freund hat das Gröbste der letzten Monate hinter sich. Er wirkt aufgeräumt und lebensbejahend, trägt seine Lieblingskombi: Graue Jeans und schwarzes Langarmshirt. Wir sprechen über Liebe, Erfolg und Glück.
Liebe
«Weisst Du, ich dachte immer, meine eigenen Bedürfnisse seien irrelevant. Ich hatte schon früh gelernt, dass man Liebe und Aufmerksamkeit bekommt, indem man die Bedürfnisse der anderen befriedigt, seine Rolle als Kind richtig spielt: Die elterlichen Erwartungen erfüllen und bloss nicht stören. Beim Vater war wenig Nähe zu holen, er lebte in seiner eigenen Welt aus Beruf und Hobbys. Ich glaube, sein Motiv für die Zeugung zweier Kinder sei die naive Gewissheit gewesen: ‘Mann muss Familie gründen’. Oder vielleicht war mein Bruder einfach nur ein Unfall und ich dann der zwingende Folgefall, weil man damals keine Einzelkinder hatte, das war nicht Mode. Auch bei Mutter war Zuneigung kaum zu kriegen, ihr Alkoholismus absorbierte sie fast permanent. Nach Aussen wahrten wir aber sorgsam den Schein einer intakten Familie und funktionierten alle - als diesen Zweck heiligende Mittel - glücklos vor uns hin.»
Mein Freund denkt nach. - «Keine Ahnung, ob mir da meine Erinnerung einen bösen Streich spielt, aber ich kann in mir keinerlei Indizien abrufen, dass mich meine Eltern liebten. Ich glaube zwar zu wissen, das sei immer der Fall gewesen, richtig zu spüren bekommen habe ich es aber leider nur sehr selten. Trotzdem mache ich ihnen keinen Vorwurf, hege keinen Groll. Sie sind ja keine schlechten Menschen, sie konnten es in ihrer Unreife und mit ihren eigenen Traumata wohl einfach nicht besser.»
Es macht mich traurig, meinen Freund so reden zu hören. Gleichzeitig bin ich erleichtert, dass er inzwischen die Ursachen durchschaut, die aus ihm dieses selbstwertarme, leise und zuverlässig drehende Zahnrädchen der Gesellschaft gemacht hatten. Ein Zahnrädchen, das meist nur dann halbwegs glücklich war, wenn es in einem Zweiergetriebe drehte: In Partnerschaften hatte er jeweils einen Menschen, auf den er sich mit seiner früh erlernten Methodik fokussieren, dessen Bedürfnisse und Erwartungen er befriedigen durfte. Das verschaffte ihm die Liebe, Wärme und Nähe, die ihm als Kind weitgehend verwehrt geblieben waren. So gewann er zwar sein Lebenselixier, blieb sich jedoch weiter fern und fremd. Offensichtlich hat er nun aber auch verinnerlicht, wie eine dergestalt übersteigerte Selbstvergessenheit in vollendetem Selbstverlust zu münden droht.
Erfolg
Mein Freund ist nicht auf den Kopf gefallen. In Grundschule, Berufslehre und an der Fachhochschule holte er ohne substanzielle Anstrengungen, aber auch ledig jeder eigenen Wertschätzung stets sehr gute Noten ab. Er gehört eigentlich fast immer und in allem, was er tut, zu den Besten. Beruflich machte er einen logischen Schritt nach dem anderen. Heute arbeitet als Projektleiter bei einer kleineren Softwarefirma und verdient ziemlich gutes Geld. Man kann also mit Fug sagen: Er ist erfolgreich.
«Was heisst schon ‘erfolgreich’? Wozu ist schulischer, beruflicher oder sportlicher Erfolg denn gut, wenn man derweil im persönlichen Menschsein völlig versagt? Ich hatte nie wirklich einen Plan, was ich mit diesem merkwürdigen Leben anstellen sollte, weder jobmässig noch abseits. Wobei es in der Arbeitswelt für mich ohnehin relativ einfach ist: Ich konnte schon immer gut mit Zahlen und Worten umgehen, bin recht schnell von Begriff. Mit einem so in die Wiege gelegten Rüstzeug und ein paar Diplomen kriegt man in unserem Wirtschaftssystem leicht eine gut bezahlte Arbeit. Aber mir hat das nie viel bedeutet, ich konnte es einfach. Und irgendwie muss man ja schliesslich die Rechnungen bezahlen. Mein Problem war, dass ich vor und nach der Arbeit nicht wusste, was ich tun sollte, wohin mit mir, weil mir meine eigenen Bedürfnisse ein unlösbares Rätsel waren. Den Frust darüber tötete ich mit Zeitfüllern ab, die mich von mir selbst ablenkten, vor allem mit Gamen und Kiffen. Dadurch wurde der dunkle Schatten, den ich zwar in mir wahrnehmen, aber nicht zuordnen konnte, zur watteweichen Leere und jede Selbstkritik verstummte. Und so war auch schnell wieder Montag und ich durfte nach einem weiteren Wochenende der Selbstsabotage zurück ins Hamsterrad und funktionieren.»
Glück
Ich frage meinen Freund, was ihn letztlich davon abgehalten hatte, den geplanten Suizid zu vollziehen und wie es denn überhaupt so weit hatte kommen können. - «Ach, im Verdrängen negativer Emotionen bin ich ein Weltmeister, das ist vermutlich ein Effekt meiner familiären Prägung: Wenn du als Kind nicht bekommst, was du so dringend bräuchtest, dann setzt wohl ein dissoziativer Überlebensmechanismus ein, der die Psyche zu begradigen sucht. Das ist zumindest meine Theorie. Der Nachteil ist halt, dass man vom Verdrängten nur wenig mitkriegt - und irgendwann ist das Depri-Fass dann übervoll und es geht einfach nicht mehr. Das Zünglein an der Waage war bei mir, dass ich im letzten Winter von einer Frau, die ich sehr gemocht und der ich voll vertraut hatte, auf ziemlich üble Weise verlassen worden war. Das fand ich dermassen ungerecht, dass ich dann zum Schluss kam ‘okay, es reicht jetzt, ich mag nicht mehr’. Aber nun bin ich ja doch noch hier. Ironischerweise dank derselben Eigenschaft, die überhaupt erst zum ganzen Eklat geführt hatte: Ich stellte die eigenen Bedürfnisse nochmals hintenan, wollte die Mitmenschen vor dem Entsetzen bewahren, irgendwie mit meinem Suizid umgehen zu müssen.»
Wie es ihm denn heute gehe, frage ich. - «Der Schriftsteller Thomas Meyer sagte mal in einem Interview: ‘Glück ist eine Subtraktionsrechnung: Man muss alles aus dem Leben rausschmeissen, was einen unglücklich macht. Und zurück bleibt dann eben Glück.’ - Dieser Devise versuche ich seither zu folgen. Das Betäuben lasse ich bleiben und möglichst auch alles andere, was mir schaden könnte. Glück finde ich im Singen, der Musik, dem Lesen und Schreiben, Brett- und Kartenspielen, in der Natur, im Zusammensein mit Menschen, die mir lieb und teuer sind. Ich lerne noch jeden Tag, wer ich bin und was ich brauche, und manchmal gibt’s auch Tiefs, doch die Richtung stimmt. Weiterhin versuche ich, stets ein guter Mensch zu sein, aber mittlerweile endlich auch zu mir selbst. Mein inneres Kind kriegt viel Liebe.»
Mein Freund hat die Kurve gekratzt, das ist verdammt gut so.
Ich bin mein Freund.
Der Titel dieses Textes ist einer Zeile aus dem Song "Truth" von Alexander entlehnt:
Nachtrag 1: Dieser Text wurde am 15. Juli 2021 auch auf meinem bevorzugten Schweizer Onlinemedium "watson" publiziert, worüber ich mich sehr gefreut hatte. Ich danke auf diesem Wege allen Menschen, die sich die Zeit nahmen, einen Kommentar dazu zu schreiben. Hier ist der Link: https://www.watson.ch/leben/storytime/492253579-den-schatten-abschuetteln
Nachtrag 2: Gut vier Jahre nach meiner Zäsur habe ich diesen Text anfangs 2023 nochmals leicht redigiert. Trotz Pandemie, Ukraine-Krieg und Klimakatastrophe darf ich auf immens viele schöne und bereichernde Erfahrungen und Erlebnisse zurückblicken. Und so bin ich heute in der Rückschau unfassbar froh und dankbar, dass ich mir selbst diese Chance gewährt hatte.
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