Im Herbst 2017 war für mich klar geworden, dass ich jetzt endlich mal Japan sehen sollte. Wieso? Keine Ahnung. Vielleicht weil ich mir vorstellte, das sei etwas vom Abgefahrensten, was man mit seinem Urlaub machen kann. Ich wurde jedenfalls nicht enttäuscht.
Unbestrittenermassen ist eine Hin-und-zurück-Flugreise nach Japan in etwa das ökologische Äquivalent eines Kettensägenmassakers. Verübt in einem gemeinnützigen Tierheim für mehrfach behinderte Katzenbabys, die von freiwilligen Randständigen betreut werden. Aber immerhin lässt sich die also durchaus berechtigte Flugscham heutzutage mittels CO2-Kompensation zumindest etwas abmildern. Ich für meinen Teil habe das Gewissen auch damit trösten können, dass ich seit vier Jahren kein Auto mehr besitze und auch ansonsten nach Kräften danach trachte, mein irdisches Dasein einigermassen klimaschonend zu fristen. Kognitive Dissonanz: Erfolgreich überwunden, yay, heute kein Temesta!
Hier nun aber ohne weitere Umschweife meine vier minus eins ganz persönlichen, etwas andere Gründe für einen Japan-Besuch. Und jaja, Tempel und sonstiges Kulturgedöns gibt's dort natürlich auch zuhauf, aber dafür kann man sich gerne anderswo ein paar Reiseblogs reinballern, das Internetz ist gross.
1 Matsuya: Leckeres Essen für fast umme
Weil Essen nun mal ein existenzielles Bedürfnis ist, setze ich diesen Grund gleich an den Listenanfang. Matsuya ist zwar genau genommen eine Fast Food-Kette, und dass Fast Food eigentlich per se kulinarischer Unfug der übelsten Sorte ist, braucht man nun wirklich keinem mehr zu erzählen. Hier bezieht sich Fast Food aber lediglich darauf, dass man schnell bestellt und bezahlt hat (an einem Touchscreen-Automaten beim Eingang) und den Mampf dann auch sehr zügig vor die hungerbedingt voreingespeichelte Fressluke serviert erhält. Das Essen an sich ist Japan-typisch vorwiegend sehr ausgewogen und macht also nicht wie beispielsweise jenes vom grossen, hässlichgelben M einen wackligen, adipösen Kopfstand auf der Spitze der Ernährungspyramide.
Reichhaltiges Frühstück gibt's bei Matsuya für gut vier Franken (410 Yen), ein komplettes Menü mit Salat, Misosuppe, Reis und irgendwas Fleischigem oder Fischigem für keine sieben Franken (660 Yen). Ein Getränk wie Wasser oder Grüntee kriegt man in Japan übrigens nahezu immer und überall gratis dazu, für Gerstensaft oder überzuckerte Sprudeljauche löhnt man extra. In meinen gut drei Wochen in Japan ass ich dutzendfach bei Matsuya und war ausnahmslos sehr zufrieden (Notiz an mich selbst: Das war jetzt stilistisch eher grenzwertig, liest sich ja fast wie Product Placement, bäh, widerlich. Wenn das so weitergeht, lande ich irgendwann noch in der Schweizer Illustrierten und halte mit laszivem Blick im Schaumbad ein Ragusa in die Kamera. Diesfalls wäre ich sehr dankbar, wenn mir vorher jemand einen gepflegten Genickschuss verpasst).
Äh, ja, Mampf bei Matsuya war lecker. Ganz im Unterschied zu meinen beiden Abstechern zu prominenten westlichen Fast Food-Branchenvertretern (Burger resp. frittiertes Huhn): In beiden Fällen war ein akuter Rückenhusten das leidvolle Resultat. Ach, was war ich da froh um den Anfängerkurs Japanisch; mit einem gepressten "toire wa doko desu ka?" kriegt man jederzeit freundlich den Weg zur nächsten Keramik gewiesen (vgl. auch Grund Nr. 10).
Ich empfehle eindringlich, bei einem Japan-Besuch etwas kulinarische Abenteuerlust zu zeigen. Es muss ja jetzt nicht unbedingt gleich Fugu sein, aber nebst den Pflichtübungen Sushi und Tempura darf bitte auch die Kür (u.a. Okonomiyaki, Omuraisu und Takoyaki) nicht fehlen, sonst verpasst man wirklich was. Matsuya ist dabei der stets verlässliche Fels in der Brandung der gepflegten Nahrungsaufnahme. Auch für Curry, das können sie in Japan nämlich ebenfalls ganz ausgezeichnet.
2 Warehouse Kawasaki: Gamers feuchtester Traum
Liebe Kellerkinder, Ihr müsst jetzt alle mal eben ganz, ganz stark sein. Als ich beim Verfassen dieses Beitrags nämlich den Link zum Warehouse Kawasaki googelte, stiess ich auf eine niederschmetternde Hiobsbotschaft, die mir nostalgisches Augenpipi bereitete: Das Etablissement schloss am 17. November 2019 seine Pforten - wohl für immer. Das hier ist deshalb der "minus 1"-Grund.
Während Spielhallen mit Videospielen in unseren Längengraden aufgrund des rasanten technologischen Fortschritts im Heimkonsolenbereich schon seit geraumer Zeit der Vergangenheit angehören, steckt man in Japan nach wie vor gerne viele Münzen in jederzeit aufnahmewillige Automatenschlitze. Wiewohl es im Lande der weltkränksten Zocker mit ihrer vollendet übermenschlichen Visuomotorik noch immer tausende Game Centers gibt und ich nur ein paar wenige davon persönlich aufgesucht hatte, so kann es doch nicht mal den allergeringsten Hauch eines Zweifels daran geben, dass das Warehouse Kawasaki die Krone der diesbezüglichen Schöpfung darstellte. Und ich meine mit himmelweitem Abstand.
Was das Warehouse Kawasaki auszeichnete, war nicht mal unbedingt das breitgefächerte, sich auf fünf Etagen episch ausbreitende Unterhaltungsangebot - aktuelle und Retro-Games, die unvermeidlichen Scheissplüschigreifautomaten, Purikura-Fotoautomaten, Darts, Billard, Tischtennis - sondern vielmehr die hirnpulverisierend immersive Erfahrung, in die man sofort nach dem Öffnen der Eingangstüre abtauchte. Nach einer alarmrot beleuchteten Luftschleuse mit Star-Trek-liker Zischtüre gelangte man in einen langen, düsteren, einem abgeranzten Hinterhof nachempfundenen Gang, den man mit sich sukzessive weiter und weiter öffnender Kinnlade (wtf? wtf?! WTF?!?!?!) entlangtrottete, während aus unsichtbaren Lautsprechern leises Strassengemurmel tröpfelte. Am Ende eine natürlich im selben Stil gehaltene Rolltreppe, die den staunenden Menschen ins erste Obergeschoss beförderte. Das ganze Erdgeschoss war einzig und allein dem Ein- und Austrittserlebnis vorbehalten - heiliger Kot, das muss man sich bei den japanischen Bodenpreisen mal geben (vgl. auch Grund Nr. 4)!
Im ersten Obergeschoss dann also ein im vorderen Bereich sich über zwei Etagen erstreckendes, dystopisches Kleinstadtfragment mit einigen teilweise dermassen seltenen Retro-Automaten, dass sie nur unter strenger Aufsicht bespielt werden durften. Man kann sich die unglaubliche Detailverliebtheit der Gestaltung des Warehouse Kawasaki beim besten Willen nicht mal ansatzweise vorstellen, wenn man ihrer nicht mit eigenen Augen ansichtig geworden ist. Da war sprichwörtlich jeder, sorry, verfickte Quadratzentimeter zur stilistisch reinsten Perfektion erhoben worden: Vergilbte Zeitungsreste und halb zerrissene Plakate, staubig-dreckige Fensterscheiben, zerbrochene Fliesen, Schmutz und Rost und Wasserflecken - nicht mal vor den Getränkeautomaten machten die Innendekorateure Halt.
Nach längerer Zeit war ich im vierten Obergeschoss angekommen, ohne bis dahin überhaupt einen einzigen Automaten angerührt zu haben, und schon dermassen reizüberflutet, dass ich mich erst mal ein wenig hinsetzen musste. In der Nähe eines überdimensionierten, absurd schwülstigen Brunnens begutachtete ich den sich mir darbietenden Stilbruch: Ab dieser Etage war Art déco angesagt, es wurde edel und luxuriös und protzig und reichlich gülden. Aber ich sah absolut keinen triftigen Grund zur Beanstandung, denn hier wurde die noble Infrastruktur für Herrenmenschenunterhaltung ausgebreitet (Billard), und die muss nun mal auch optisch und haptisch vom garstigen Unterschichtsgedaddel abgegrenzt werden. Jedenfalls hatten die Leute auch in den obersten beiden Etagen ganze Arbeit geleistet, die Gestaltung bis hinab in den Schlund der Kloschüssel voll durchgezogen.
Einen ganzen Vormittag hatte ich im Warehouse Kawasaki zugebracht und nur sehr wenig gezockt, jedoch einige quietschbunte Purikura-Erinnerungsfotos geschossen. Danach fuhr ich komplett erschöpft zurück ins Hotel und schlief erst mal zwei Stunden traumlos. Ich war und bin froh und tief dankbar, dass ich das Warehouse Kawasaki noch erleben durfte. Dagegen stinkt jeder Vergnügungspark vom Allerbittersten ab, schwöre aufrichtig.
3 Takuhaibin: Die gute Koffer-Fee
Ich geb's ja offen zu: Dieser Grund ist etwas gesucht, aber irgendwie muss ich die Zehn dann auch mal vollkriegen, okay?
Wenn man Japan ausschliesslich im ÖV bereist, dann kommt ein Dienst wie Takuhaibin sehr gelegen, weil so von Ort zu Ort mit einem fetten Rollkoffer im Schlepptau ist irgendwie halt einfach nicht die ganz grosse Gaudi. Da springen dann Dienstleister wie beispielsweise Yamato ein (nebenbei sollte man sich das allerliebste Logo dieser Firma etwas genauer anschauen) und das geht so: Am Vortag an der Hotelrezeption ein Formular ausfüllen (lassen), ungefähr 20 Franken resp. etwas über 2'000 Yen abdrücken, am nächsten Tag im neuen Hotel ankommen - der Koffer steht bereits im Zimmer. Sogar wenn man von Hiroshima nach Tokio reist, was ungefähr 900 Kilometern entspricht. Nice! So hat man am Bahnhof immer beide Hände frei für was auch immer. Wenn man kein Thalidomid-Kind ist.
4 Anorektische Architektur: Schatz, das Doppelbett passt nicht rein
Wer baut so etwas? Und warum? Nun: Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Metropolregion Tokio mit ungefähr 38,5 Millionen Einwohnern und einer Bevölkerungsdichte im eigentlichen Stadtkern von über 15'000 Menschen pro Quadratkilometer unfassbar gross ist. Zum Vergleich Zürich: Etwa 400'000 Einwohner bei einer Bevölkerungsdichte von ca. 4'500 pro Quadratkilometer. Als Folge davon sind die Bodenpreise in Tokio exorbitant hoch: An bester Lage (Ginza-Einkaufsviertel) wurde vor wenigen Jahren ein Rekordpreis von über 350'000 Franken bezahlt. Pro Quadratmeter notabene. Selbst in entfernteren Aussenbezirken wie Setagaya, eine halbe Zugstunde vom Zentrum weg, kann man schön froh sein, wenn man den Quadratmeter unter 5'000 Franken kriegt. Und weil sich das so gut wie niemand mehr leisten kann, werden halt die Parzellen immer kleiner und die Häuslein immer schmaler. Faszinierend fürs Auge eines angstfreien Menschen, jedoch eine sehr hohe Strafe für Klaustrophobiker.
Zum zweiten Teil dieser Trilogie geht's hier.
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