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  • AutorenbildChatty Avocado

Martyrium eines Aussenseiters

Aktualisiert: 23. Jan. 2021

Das grossartige Musikvideo «College Boy» der französischen New-Wave-Band Indochine beginnt leise, beschaulich und zaghaft. Sein Ende ist laut, verstörend und alles anderes als happy.

Der kanadische Regisseur Xavier Dolan liefert ein Meisterstück der Musikvideogeschichte ab. Sein Kurzfilm «College Boy» beschreibt den Leidensweg eines namenlosen Oberstufenschülers, der sich einer abgrundtief bösen, unausweichlichen Tyrannei seiner Mitschüler ausgesetzt sieht. Obschon die sukzessive intensivierten Gewaltdarstellungen etwa ab der Hälfte des genau sechsminütigen Dramas die Grenze des Aushaltbaren ausloten und streckenweise auch deutlich überschreiten, so sind sie dennoch weder selbstzweckhaft noch unangebracht. Also ganz anders als in der unsäglichen «Passion Christi» von Mel Gibson, die mit religiösem Feuereifer eine inhaltsleere, himmelschreiende Orgie brutalster Folter als engstirnig-verblendete Wichserei abfeierte. Dolan hingegen treibt die Gewalt, einem frühen Tarantino gleich, bloss zwecks deutlicher Inhaltsvermittlung zur Groteske.


«College Boy» seziert mit feinem Skalpell bis hin zur grossen Amputationssäge thematisch weit mehr als nur Mobbing und Schulhofgewalt. Der Film handelt von Eltern, die ihre Kinder nicht mehr verstehen können oder wollen, die sich lieber ihren eigenen Belanglosigkeiten und Belustigungen zuwenden als den Sorgen und Nöten des Nachwuchses. Man will sich die wohlgepflegte Fassade guter Alltagslaune schliesslich nicht von unbedeutenden Neckereien verhageln lassen; Kinder streiten halt hin und wieder, ein Schul- war noch nie ein Ponyhof, Abhärtung tut not. In «College Boy» klingt neben seinem Grundtenor auch Zivilcourage respektive deren verachtenswerte Absenz an. Ferner hebt das Werk den dürftigen Umgang unserer Gesellschaft mit Missständen hervor und zeigt kleinbürgerlicher Bigotterie und christlicher Heuchelei in aller Deutlichkeit den Stinkefinger.


Das Video von Indochine will dem Publikum also gleichermassen grob wie subtil ins Hirn prügeln, wie ungenügend Zuschauen und Zwangsbetroffenheit in manchen Situationen sind. Dass es weit mehr braucht und zwar von uns allen. Nicht nur passive Kenntnisnahme, vielleicht noch unterlegt mit der einen oder anderen situationsgerechten Krokodilsträne leichtflüchtigen Mitgefühls. Und schon gar nicht ein aktives Wegschauen. Die Moral gebietet echte, aufrichtige Anteilnahme und selbstlose Hilfe. Für das Nachbarskind, das auf dem Pausenplatz um die Ecke grundlos zu blutigem Klump geprügelt wird. Für die Hunger leidenden Menschen im weit entfernten, kriegsversehrten Tschad. Für alle Opfer, die unser Welt hervorbringt. «College Boy» ist ein Schwarzweissfilm; das nimmt seiner Gewalt zwar etwas Schärfe, verleiht aber den zahlreich vermittelten Kontrasten den ihnen angemessen Kontrast.

 
 

Diesen Beitrag verfasste "yours truly" im Rahmen der Aufgabenstellung "Rezension" in der Grundstufe Journalismus an der SAL.


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