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AutorenbildChatty Avocado

Dichter als Goethe

Aktualisiert: 9. Feb. 2021

Man braucht sich keinen feuchten Furz für Astronomie interessieren, um Neutronensterne geil zu finden. Naja, zumindest hier in meinem kleinen Kosmos nicht. Denn diese Objekte sind einfach zu unfassbar krass, als dass man sie nicht geil finden könnte.

Bild: Pixabay.com (NidhiYashwanth)


Well, you're dead now... so shut up!

Was Sterne an sich eigentlich sind, werde ich in diesem Beitrag nicht ausführen. Ebenso wenig werde ich im Allgemeinen darauf eingehen, was diese gigantomanischen galaktischen Fusionsreaktoren im Verlauf ihrer viele Milliarden Jahre überdauernden Existenz so treiben. Und ganz sicher werde ich auch nicht im Speziellen darauf eintreten, wie Sterne (z.B. unsere Sonne) durch ihr schieres Dasein auf den sie umrundenden Planeten überhaupt erst Leben ermöglichen - sofern sich diese Felsklumpen in der habitablen Zone bewegen. Nein, oh nein. Hier soll es jetzt vielmehr um Tod und Verderben gehen, ein Festival kosmischer Brutalität und roher Gewalt, eine Sternstunde der Dekonstruktion. Folglich werden wir einen Blick auf Neutronensterne werfen; bizarre Objekte, die am Ende eines langen Sternendaseins nach einer wuchtigen Supernova übrig bleiben, sofern der Stern nicht zu einem Schwarzen Loch kollabiert. Ein Neutronenstern ist mithin quasi ein Sternenkadaver, aber ein ausgesprochen hochaktiver, insofern also eher ein wütender, wirbliger Sternenzombie. Auf Speed. Sehr viel Speed.



Klein

Nach astronomischen Massstäben sind Neutronensterne winzig, ihr Durchmesser beträgt üblicherweise nur etwa 20 Kilometer. Damit man sich eine Vorstellung eines solchen Kügelchens machen kann: Bei zügigem Marschtempo hätte man einen Neutronenstern in ungefähr zwölf Stunden am Äquator komplett umrundet, Grillpause mit Bier und Cervelat unberücksichtigt. Ein Marathonläufer der Weltklasse würde es ungedopt wohl locker unter vier Stunden schaffen. Wie wir aber noch sehen werden, ist es generell keine besonders gute Idee, überhaupt nur einen Fuss auf einen Neutronenstern zu setzen. Wenn man von Oberflächentemperaturen von einigen Millionen bis einigen Tausend Grad mal absieht. Sie kühlen mit der Zeit allmählich aus, aber richtig frostig wird's garantiert nie. Eher so Schicksalsberg-Klima.



Dick

Neutronensterne sind wie oben gesehen von eher unscheinbarem Wuchs. Es gelingt ihnen auch nicht, dieses offenkundige körperliche Manko anderweitig zu kompensieren. Im Gegenteil ist ein weiteres ihrer besonderen Kennzeichen eine sehr ausgeprägte Moppeligkeit. Wobei: Das war jetzt etwas unverschämt, eigentlich haben sie ja bloss schwere Knochen. Ihre durchschnittliche Dichte ist ziemlich imposant: Ein Teelöffel voller Neutronensternmaterie wiegt etwa eine bis zwei Milliarden Tonnen. Also ungefähr so viel wie Deine Mutter. Oder ungefähr so viel wie die Stadt Berlin mit allem Drum und Dran. Oder ungefähr so viel wie weit über 30 Milliarden Menschen - zusammengepfercht in einem Teelöffelchen. Da erhält "Dichtestress" eine ganz neue Begriffsdimension.


Es macht ja eigentlich absolut keinen Sinn, über den Teelöffel hinaus zu schauen und sich auch noch das Gewicht eines gesamten Neutronensterns vorstellen zu wollen oder dieses Gewicht in Relation zu irgendwas Vertrautem zu setzen. Wir machen es natürlich trotzdem: Ein Neutronenstern mit seinem Radius von nur 10 Kilometern wiegt circa das Doppelte unserer Sonne bzw. das Einmillionenfache unserer Erde. Nicht besonders hilfreich, hm? Sorry halt. Aber immerhin lässt sich nun zweifelsfrei feststellen, dass besagter Teelöffel mindestens aus reinstem Adamantium gefertigt sein müsste.


Wenn derart viel Masse auf einem so kleinen Raum konzentriert ist, wohnt dem fraglichen Objekt eine nachgerade perverse Schwerkraft inne. Fällt Dir auf der Erde Deine Bierdose aus einem Meter Höhe aus der Hand, dann dauert es etwa eine halbe Sekunde (0,5 s) bis der Boden per Dosenaufschlag bei knapp 16 Stundenkilometern schaumig eingesaut wird. Passiert Dir dasselbe auf einem Neutronenstern, werden Bierdose samt Inhalt nach einer Mikrosekunde (0,000001 s) Fallzeit mit einer Geschwindigkeit von über 7 Millionen Stundenkilometern auf der Oberfläche in ihre elementarsten Elementarbestandteile zerlegt. Die Bierdose hat auf einem Neutronenstern übrigens wegen der massebedingt absurden Schwerkraft ein Gewicht von gut 500 Milliarden Tonnen. Du selbst kommst bei einem solchen Missgeschick daher wohl auch nicht besonders gut weg: Wenn meine Berechnungen nicht ganz falsch sind, entsteht beim Aufprall eines Gegenstands von 500 Milliarden Tonnen bei 7 Millionen Stundenkilometern kinetische Energie mit einem Äquivalent von ein paar Billionen Atombomben. Das verschütt gegangene Hopfenteelein und die ergo trockene Kehle wären also höchstwahrscheinlich Deine geringsten Probleme. Aber mit Gewissheit Deine letzten.


Wobei dieses Gedankenspiel aber eher theoretischer Natur ist, denn bei einer Schwerkraft, die 200 Milliarden mal stärker ist als jene der Erde, hört man sowieso buchstäblich direkt auf, ein Mensch zu sein. Ein wenig gestelzter formuliert: Die Integrität des eigenen Körpers wird bei solchen G-Kräften instantan und sehr nachhaltig disruptiert. Medizinisch formuliert: Man erleidet ein extrem akutes Polytrauma des gesamten Corpus. Oder ganz direkt: Man wird sofort zu einem Schmierfleck verkohlten Blutes zermatscht. Mensch und Neutronenstern, das verträgt sich irgendwie einfach nicht. Leider gibt es auf Wikipedia noch keinen Artikel über Gravitationsbiologie, sonst hätte ich das hier sehr gerne noch etwas detaillierter und vor allem bildhafter ausgeführt. Aber einen ungefähren Eindruck sollte man, so hoffe ich zumindest, nun doch erhalten haben.


Nebenbei auch ziemlich irre: Eine dermassen hohe Gravitation führt zu einem Linsenffekt, wonach vom Neutronenstern ausgesendetes Licht dergestalt abgelenkt wird, dass für einen entfernten Beobachter auch Teile der Sternenrückseite sichtbar werden. Endlich darf man mal über einen Horizont hinausschauen, auch wenn's halt nicht der je eigene ist. Wäre unser Mond so schwer wie ein Neutronenstern und hätte folglich dieselben gravitativen Eigenschaften, so vermöchte man mit einem anständigen Fernrohr von der Erde aus wohl die Nazis auf der dunklen Rückseite des Mondes zu erblicken.



Hyperaktiv

Nun sind diese kleinen Dickerchen aber nicht nur klein und dick, sondern auch brutal schnell, denn einerseits flitzen sie mit mehreren zehn- bis hunderttausend Stundenkilometern durchs All. Andererseits rotieren sie in einem atemberaubenden Tempo um die eigene Achse: Der Neutronenstern mit der bisher höchsten gemessenen Geschwindigkeit macht über 700 Umdrehungen - pro Sekunde! Und das bei dem Gewicht! Wollte man diese Drehzahl bei einem handelsüblichen Autorad erzielen, müsste man mal eben auf gut 3'000 Sachen beschleunigen. Nun hat ein Neutronenstern aber einen beträchtlich grösseren Umfang als ein Autorad - und weil Geschwindigkeit halt ein Mass für die pro Zeiteinheit zurückgelegte Wegstrecke ist, beträgt am Äquator eines Neutronensterns bei 700 Umdrehungen pro Sekunde das Rotationstempo fast ein Viertel der Lichtgeschwindigkeit. Das sind über 250 Millionen Stundenkilometer.


Neutronensterne haben wegen ihrer hysterisch ballerinahaften Eigenrotation ein extrem potentes Magnetfeld. Die stärksten Magnetfelder auf der Erde werden in der Nähe von Umspannwerken mit etwa 0.001 Tesla gemessen. Rekordhungrige Forscher erzeugten kürzlich in einem US-Labor ein Magnetfeld mit ungefähr 100 Tesla. Ein befreundeter Neutronenstern dazu: "Hold my beer (100 Millionen Tesla)". Käme ein Neutronenstern der Erde zu nahe, beispielsweise in Distanz unseres naziverseuchten Mondes, könnten wir alle Gegenstände mit elektronischen Komponenten gleich mal schön in die Tonne kloppen, selbst Magnetstreifen von Bank- und Kreditkarten würden durch das Magnetfeld des Neutronensterns ausradiert. Wobei ich leider nicht abschliessend klären konnte, ob dieser magnetische Effekt wirklich zuerst eintreten würde. Womöglich wäre es doch eher der für die Erde ziemlich ungünstige Einfluss der immensen Gravitation: Unser Planet entspräche dabei quasi einem Staubkorn, das von einem getweakten Riesendyson im Modus "kurz und schmerzlos" aufgesaugt würde wie nix. So oder so: Erde 0, Neutronenstern 1 - Game Over.


Ein schnell rotierender Neutronenstern wird als Pulsar bezeichnet, weil er an seinen beiden Polen in regelmässigen Abständen elektromagnetische Strahlung aussendet (ping! - Pause - Pause - Pause - ping!). Diese Strahlung kommt auf der Erde in Form von Radiowellen, sichtbarem Licht oder gerne auch Röntgenstrahlung an. Pulsare sind also so etwas wie stellare Leuchttürme. Magnetare als Sonderform von Pulsaren haben ein Magnetfeld, das nochmals etwa um einen Faktor 1'000 stärker ist als bei Neutronensternen allgemein üblich. Magnetare zeigen in unregelmässigen Abständen heftigste Strahlungsausbrüche, bei denen in Sekundenbruchteilen so viel Energie freigesetzt wird, wie unsere Sonne in 10'000 bis 100'000 Jahren abstrahlt. Ich verzichte hier gerne darauf, diese Energiemenge in Hiroshima-Atombomben-Einheiten umzurechnen, a) weil der Vergleich langsam etwas ausgelutscht ist und b) weil ich dafür viel zu viele Scheissnullen bräuchte.



Zwischenfazit: Taz

Wir fassen kurz zusammen: Ein Neutronenstern ist eine lächerlich kleine Kugel, die gestört viel wiegt, sich brutal schnell dreht und dabei immer mal wieder [hier bitte einen beliebigen, aber knackigen Superlativ einfügen] Energiemengen strahlkotzt. Kurzum: Ein stellarer tasmanischer Teufel.



Innere Werte

Vielleicht gibt es auf Neutronensternen eine Atmosphäre aus heissem Plasma, die ein paar Zentimeter über der fast glatten Oberfläche aufragt, so genau weiss man das nicht. Darunter bis ungefähr zehn Meter hinab besteht ein Neutronenstern aber jedenfalls nahezu vollständig aus Eisenatomkernen, die in Kristallgittern angeordnet sind, und ein paar Elektronen. Immerhin: Kein Rost, weil kein Sauerstoff.


In der nächsten Schicht nimmt der Anteil der Eisenatomkerne allmählich zu Gunsten einer Suppe aus freien Neutronen bis auf Null ab, weil sich unter wachsendem Druck die Protonen und Elektronen der Eisenatome gerne der Sodomie versündigen und sich zu Neutronen vereinigen. Es wird angenommen, dass die Materie am unteren Rand dieser zweiten Schicht in etwa 100 Metern Tiefe zu nuklearer Pasta degeneriert, d.h. die Neutronen haben dann keine sphärische Form mehr, sondern werden wegen des abartigen Drucks stabförmig wie Spaghetti oder plattenförmig wie Lasagne. Die Wissenschaft hat jedoch keine Ahnung, wie sich solche Materie verhält; sicher ist bloss, dass die Regeln der klassischen Physik nicht mehr gelten. Und sicher ist auch, dass verglichen mit der Härte von Neutronensternen ein irdischer Diamant nicht mehr ist als ein labbriges Gummibärchen.


Unterhalb dieser zweiten Schicht gibt es bis auf vereinzelte, einsame Protonen wohl fast ausschliesslich noch suprafluide Neutronen, mithin eine fast reine Neutronensuppe. Flüssigkeiten in diesem seltsamen quantenmechanischen Zustand können auch über höher gelegene Hindernisse hinwegfliessen, sie kriechen locker die Gefässwände hoch. Aber begreifbar ist hier sowieso schon ganz lange nichts mehr, denn unter normalen Bedingungen würden freie Neutronen mit einer Halbwertszeit von zehn Minuten wieder in andere Elementarteilchen zerfallen. Wie dem auch sei. Die Dichte steigt nun auf das Fünf- bis Zehnfache jener von Atomkernen an. Solche extremen Dichten lassen sich auch mit aktuellen Teilchenbeschleunigern nicht herstellen, weshalb unbekannt ist, was dabei genau vor sich geht.


In noch tieferen Schichten und im Kern eines Neutronensterns wird's dann komplett verrückt. Man vermutet darin ein Bose-Einstein-Kondensat oder ein Quark-Gluon-Plasma, aber eigentlich haben die Physiker auch hier bis auf schöne und stimmige Formeln keine Ahnung mehr. Es muss sich jedoch um einen Aggregatszustand handeln, in den man lieber nicht hineingeraten möchte. Gemäss einer Theorie könnte die Materie im Inneren eines Neutronensterns derart dicht gepackt sein, dass sich die Neutronen in ihre elementaren Bestandteile zersetzen: Quarks. In diesem Falle würde im innersten Kern des Neutronensterns ein bizarres Plasma entstehen, das auch sogenannte Strange-Quarks enthält. Dieses seltsame Elementarteilchen ist kein Bestandteil unserer bekannten Materie, diese kommt nämlich mit bloss zwei der sechs bislang entdeckten Quarks aus. Strange-Quarks würden, nomen est omen, seltsame Materie bilden, die normale Materie zu absorbieren und in weitere seltsame Materie umzuwandeln in der Lage wäre. Aber bevor man jetzt gleich panisch wird und "Hilfehilfe, wir werden alle sterben" rumkrakeelt: Das sind derzeit bloss theoretische Konstrukte.


Gleichwohl ist es durchaus ratsam, zu Neutronensternen egal welcher Couleur auf angemessener Distanz zu bleiben. Einige Lichtjahre oder so wären ganz gut. Aber keine Sorge, wir sind da auf der sicheren Seite: Der nächstgelegene "normale" Neutronenstern ist einige 100 Lichtjahre weit entfernt, der nächstgelegene Pulsar deren 770. Letzterer hat übrigens den wohlklingenden Namen PSR J0108-1431 und liegt im Sternbild Walfisch. Walfisch, das passt, Moppel und so, haha, geh Ritalin fressen.



Schlussfazit: Wozu das alles?

Ich halte weiterhin am Zwischenfazit fest. Und an meiner Einleitung. Taz. Geil.


Man mag jetzt aber vielleicht fragen, inwiefern es die Menschheit eigentlich weiterbringen soll, sich mit Neutronensternen oder ganz generell mit Grundlagenforschung zu befassen, deren späterer Nutzen unklar ist. In der Astronomie werden, wie in allen Disziplinen der Physik, die fundamentalen Phänomene unserer Natur untersucht. Es geht um Materie und Energie und deren Wechselwirkungen in Raum und Zeit. Ich für meinen Teil halte diese Forschung für unterstützenswert, denn je besser wir die Natur verstehen - auf makro- wie mikroskopischer Ebene -, desto eher finden wir vermutlich (hoffentlich) Technologien, die unserer Spezies einen nachhaltigeren, natürlicheren Fortbestand sichern. Und damit meine ich ganz entschieden nicht die nächste iPhone-Generation.


Womöglich finden wir ja nebenbei sogar irgendeine Form von Sinn oder Grund für unsere Existenz respektive eine schlüssige Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest (sorry, der musste einfach sein).


Ich erlaube mir nun, diesen Beitrag mit einem Elfchen zu beschliessen:


Physik

ist im

Kern die Suche

nach der Konfigurationsdatei des

Universums

 

3 Kommentare

3 Comments


svengrueter
Oct 19, 2020

ja genau! 42!!!

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Chatty Avocado
Chatty Avocado
Oct 17, 2020

@km.martin23: Mach Dir da mal bitte nicht ins Hemd, ja? Würde man sich gegen die Todesursache "Spaghettisierung durch Neutronenstern" versichern wollen, kriegte man die Police vermutlich gratis und franko zugestellt. Und das Papier wäre grossflächig gewellt von den Lachtränen des Versicherungsfuzzys.

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km.martin23
Sep 28, 2020

Diese komischen Neutronensterne sollen bloss wegbleiben von der Erde. Zumindest so lange ich auf Erden wandle :P

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nachschlag

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