Kein Thema beschäftigt die Welt im Jahr 2020 mehr als das Virus SARS-CoV-2. Und mal abgesehen vom präsidialen Wahlkampf in den USA und allenfalls noch Pizza Hawaii wird die Welt auch von keinem Thema tiefer gespalten. Wir blicken im Teil 1 ein wenig zurück.
Disclaimer vorneweg: Dieser Beitrag wird objektive Fakten und eine subjektive Meinung enthalten. Die Meinung findet sich im letzten Abschnitt, bis dahin gilt das Primat der Fakten. Womit aber nicht gesagt sein soll, dass meine Meinung nicht auf den aufgeführten Fakten basiere. Denn Behauptungen ohne Belege und irres Verschwörungsgedöns gibt's auf verbosus nicht, dafür soll man sich doch bitte "alternativ informieren" oder sich das Hirn mit einem beliebigen Video über Donald Trump zu Mus machen. Zudem noch: Wo nichts Anderes erwähnt ist, stammt sämtliches verwendete Zahlenmaterial von "Our World in Data".
Die Lawine kommt ins Rollen
Was war da eigentlich genau passiert anfangs Jahr? In China fiel für einmal nicht bloss ein Sack Reis um, sondern es wurde innert Kürze quasi ein ansehnliches Lagerareal an Oryza sativa zu staubigem Klump zerbröselt: In der Grossstadt Wuhan stellten Ärzte im Verlaufe des Dezembers 2019 eine ungewöhnliche Häufung schwerer Lungenentzündungen mit unbekannter Ursache fest. Chinesische Behörden informierten die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 31. Dezember 2019 über diese Vorgänge und am 7. Januar 2020 machte man als Erreger ein neuartiges Coronavirus bekannt.
Am 30. Januar 2020 erklärte der WHO-Generaldirektor die Chose zur gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite. Zu diesem Zeitpunkt gab es weltweit 7'823 laborbestätigte Infektionen und 170 auf das neue Virus zurückgeführte Todesfälle. Am 11. März 2020 stufte die WHO den Ausbruch offiziell und leider zu spät zur Pandemie hoch. Bis dahin hatte sich das Virus in nur knapp zweieinhalb Monaten um mehr als den halben Globus verbreitet: An diesem Tag waren kumulativ 120'927 Positivtests in weit über 100 Ländern zu verzeichnen und bereits 4'294 Menschen dem neuen Virus zum Opfer gefallen.
Wir wissen, dass wir wenig wussten
Die Welt sah sich also mit einer Pandemie konfrontiert und vieles über das Virus und die dadurch verursachte Infektionskrankheit COVID-19 war damals noch völlig unklar oder ziemlich unsicher:
Welche Herkunft hat das Virus?
Wie verbreitet es sich von Wirt zu Wirt?
Mutiert der Erreger und wenn ja, wie schnell?
Ist das Virus zoonotisch, springt von Mensch zu Tier über und vice versa?
Mit welcher Geschwindigkeit breitet sich SARS-CoV-2 zeitlich und räumlich aus?
Wie hoch ist die Dunkelziffer der Infizierten und der Toten?
Wie lässt sich das Virus schnell und genau nachweisen?
Wie kann man sich vor einer Ansteckung schützen?
Welche Dauer hat die Inkubationszeit?
Welche Symptome treten wie häufig auf?
Wie lange ist eine angesteckte Person für andere infektiös?
Sind auch asymptomatische Infizierte ansteckend?
Wie viele der Betroffenen erkranken?
Wie verläuft die Krankheit und wodurch wird ihr Verlauf beeinflusst?
Ist die Krankheit behandel- bzw. heilbar und wenn ja, wie?
Welche Spätfolgen sind bei Infektion und/oder Erkrankung möglich?
Wird/bleibt man nach Infektion oder Krankheit immun und wenn ja, wie lange?
Wie tödlich ist die Infektion resp. Erkrankung?
Ist eine wirksame Impfung möglich und wenn ja, bis wann wird sie verfügbar sein?
Ein recht ansehnlicher Berg relativen bis absoluten Unwissens türmte sich dergestalt auf. Heute wissen wir glücklicherweise mehr, aber dazu später im zweiten Teil.
11. März 2020
Am Tag der Ausrufung der Pandemie durch die WHO betrug der Fall-Verstorbenen-Anteil (CFR) - die Anzahl der Todesfälle im Verhältnis zu den bestätigten Erkrankungen mit Symptomen - im Weltmittel 3,6%. Zum sehr viel aussagekräftigeren Infizierten-Verstorbenen-Anteil (IFR) - die Anzahl der Todesfälle im Verhältnis zu allen Infektionen (inkl. asymptomatische Erkrankungen und Dunkelziffer) - gab es an diesem 11. März 2020 erst wenige vage, auf Modellrechnungen basierende Schätzungen.
Einer chinesischen Studie von Mitte Februar zufolge nahm die Krankheit in etwa 14% der Fälle einen schweren und in 5% der Fälle einen kritischen, häufig letalen Verlauf. Gemäss derselben Studie erhöhte sich das Todesrisiko mit zunehmendem Lebensalter in beträchtlichem Ausmass. Aus anderen Studien und Untersuchungen war im Weiteren zu schliessen, dass chronische Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes schwere bis kritische Krankheitsverläufe wahrscheinlicher machten.
Bis zum 11. März 2020 hatten ausgesuchte Länder die folgenden kumulativen Zahlen zu verzeichnen:
China: 80'908 Positivtests und 3'161 Todesfälle (CFR: 3,9%)
Deutschland: 1'296 Positivtests und 2 Todesfälle (CFR: 0,2%)
Österreich: 182 Positivtests und 0 Todesfälle (CFR: 0%)
Schweiz: 490 Positivtests und 3 Todesfälle (CFR: 0,6%)
Frankreich: 1'784 Positivtests und 33 Todesfälle (CFR: 1,8%)
Italien: 10'149 Positivtests und 631 Todesfälle (CFR: 6,2%)
Spanien: 3'274 Positivtests und 35 Todesfälle (CFR: 1,1%)
USA: 1'025 Positivtests und 28 Todesfälle (CFR: 2,7%)
In allen aufgeführten Ländern setzte ab etwa Mitte Februar ein exponentielles Wachstum der Positivtests ein - mit Ausnahme von China, das es dank strengster Massnahmen wie der Abriegelung ganzer Städte, Ausgangssperren und der akribischen Nachverfolgung von Infektionsketten schon hinter sich zu haben schien. Ein Sechstel der weltweiten Fälle entfiel am 11. März 2020 auf Europa, ein anderes Sechstel auf den Iran und weitere Ländern in Asien, fast der gesamte grosse Rest auf China.
Und der Bundesrat so?
In der ersten Märzhälfte 2020 präsentierte sich die Situation für die Schweiz wie folgt:
Ein neues, weitgehend unbekanntes Virus verursacht eine WHO-bestätigte Pandemie.
Das Virus ist mit einiger Wahrscheinlichkeit eine ernstzunehmende Bedrohung.
Die Infektionen und Todesfälle nehmen in den umliegenden Ländern exponentiell zu.
Die Infektionen wachsen allem Anschein nach auch im eigenen Land bereits exponentiell.
China konnte das Virus offenbar mit strengen Massnahmen erfolgreich eindämmen.
Gemäss Art. 118 der Bundesverfassung verantwortet der Bundesrat Massnahmen zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und hat infolgedessen auch Vorschriften zu erlassen über "die Bekämpfung übertragbarer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten von Menschen und Tieren". Er hätte diese Verantwortung vereinfacht ausgedrückt auf zwei Arten wahrnehmen können:
Die Bevölkerung informieren und Massnahmen anordnen.
Die Bevölkerung informieren und keine Massnahmen anordnen.
Der Bundesrat entschied sich für Variante 1, stufte am 28. Februar 2020 die Situation als "besondere Lage" gemäss Epidemiengesetz ein und verbot Grossveranstaltungen mit mehr als 1'000 Personen. Gleichentags wurde in Basel per Beschluss des Regierungsrates die Fasnacht 2020 abgesagt. Zu diesem Zeitpunkt gab es in der Schweiz erst insgesamt 8 bestätigte Fälle. Am 1. März 2020 startete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine breit angelegte Kampagne zur Information der Bevölkerung.
Da die Fallzahlen auch in der Schweiz exponentiell anstiegen, erklärte der Bundesrat nach weiteren zwischenzeitlich getroffenen Einzelmassnahmen am 16. März 2020 die ausserordentliche Lage. Er schränkte das öffentliche Leben mit der Schliessung von Schulen, nicht lebensnotwendigen Geschäften und Dienstleistungsbetrieben massiv ein und verhängte ein Veranstaltungsverbot sowie Grenzkontrollen und Einreiseauflagen. Das Tessin hatte schon einige Tage zuvor, am 11. März 2020, auf seinem Kantonsgebiet den Notstand ausgerufen, da die Situation ennet der Grenze in Italien ausser Kontrolle zu geraten schien. Bis zum 16. März 2020 waren in der Schweiz bereits 2'200 bestätigte Infektionen und 13 Todesfälle zu verzeichnen.
Im Nachgang dieses Bundesratsbeschlusses verharrten die täglichen Neuinfektionen noch für ungefähr drei Wochen auf einem um 1'000 schwankenden Niveau, die täglichen Todesfälle mäanderten für etwa sechs Wochen um den Wert 50. Gegen Ende Mai flachten beide Kurven fast gegen Null ab. Am 16. April 2020 gab der Bundesrat den Fahrplan für den alsdann vollzogenen, etappierten Ausstieg aus dem Lockdown bekannt: Ab Ende April 2020 durften Geschäfte und Betriebe einzelner Branchen wieder öffnen, an obligatorischen Schulen war ab Mitte Mai 2020 Präsenzunterricht zugelassen und sämtliche Einkaufsläden und Märkte wurden geöffnet. Im Juni 2020 wurden hernach bis auf das Verbot von Grossveranstaltungen über 1'000 Personen und teilweise geschlossene Grenzen respektive Einreisebeschränkungen nahezu alle Massnahmen und Empfehlungen ausser Kraft gesetzt. Ab dem 19. Juni 2020 galt wieder die besondere Lage gemäss Epidemiengesetz.
Und ich so?
Ab ungefähr Ende Februar 2020 wuchs meine Besorgnis. Am 15. März 2020 beschloss ich, ab sofort im Home-Office zu arbeiten und zog dies wie auch die Einhaltung aller weiteren behördlichen Massnahmen und Empfehlungen eisern durch, bis jeweils von Seiten Bundesrat respektive BAG zurückbuchstabiert worden war. In den Kommentarspalten einiger Medien, worin ich mich zu jener Zeit rege literarisch zu ergiessen pflegte, wurde ich für diese Regeltreue und nicht zuletzt auch die konsequente Verteidigung der Massnahmen und Empfehlungen gerne mal als "unkritisches, mainstreamhöriges Schlafschaf, das nicht mehr selbst denken kann", "Panikmacher" oder "Coronahysteriker" betitelt. Super war's.
Man ist ja gemeinhin gerne mal versucht, vergangene Ereignisse durch die Brille eines erst später erworbenen Wissens zu beurteilen. Das soll hier nicht passieren, ich möchte eine dem damaligen Wissensstand entsprechende Position einnehmen und meine Meinung darlegen, wie sie auch seinerzeit war. Und dergestalt in diese Position zurückversetzt kann ich auch heute zu keinem anderen Schluss gelangen als jenem, wonach der Bundesrat in dieser Anfangsphase der Pandemie verhältnismässig und verantwortungsvoll gehandelt hatte. Sein gewähltes Vorgehen war aus meiner Sicht sogar mehr oder weniger alternativlos. Die einzig zulässige Kritik besteht meines Erachtens darin, dass man gemessen am Weltgeschehen die ausserordentliche Lage eine bis zwei Wochen früher hätte ausrufen können.
Es gab jedoch schon ab Ende Februar Stimmen, welche die Pandemie in Frage stellten und/oder die diesbezüglich getroffenen Massnahmen in aller Schärfe kritisierten. Ich meine damit jetzt nicht in erster Linie jene verirrten Seelen mit wohl eher zweckmässigem Intellekt, welche schon die schiere Existenz der Pandemie in Abrede stellten oder Bill Gates für alles verantwortlich machten. Und auch nicht die Kommentarschreiber, die sich meiner Meinung nach einen grundfalschen Zeitpunkt für zivilen Ungehorsam ausgesucht hatten. Sondern insbesondere amtsunfähige Politiker wie Donald Trump, Jair Bolsonaro und Konsorten sowie "Fachleute" wie Sucharit Bhakdi oder Wolfgang Wodarg, die sich schon in der ersten Märzhälfte oder noch früher bemüssigt sahen, die vom neuen Virus ausgehende Bedrohung zu verharmlosen, obschon es damals für Verharmlosungen weder Indizien noch Belege gab. Solche Politiker setzten von Anfang an Geld vor Leben und die genannten "Fachleute" wollten sich nach meinem Eindruck vor allem wichtig machen und womöglich ein Stück vom Medienkuchen abhaben.
Wenn man den Tatsachen klar und ungeschönt in die Augen zu schauen bereit war, so wusste man in dieser Frühphase der Pandemie im Wesentlichen sicher dies: Sofern die Neuinfektionen weiterhin im beobachteten Tempo exponentiell wachsen, stehen innert Kürze nicht mehr ausreichend Spital- und Intensivbetten zur Verfügung. Weder für die an COVID-19 Erkrankten noch für andere Fälle. Und man wusste gleichzeitig nur sehr wenig über die tatsächliche Gefährlichkeit des Virus, sie schien aber um Faktoren über jener z.B. der saisonalen Influenza zu liegen. Ich meine daher: Wer vor diesem Hintergrund nicht aufs Vorsichtsprinzip setzte, hatte ohne jegliche belastbare Evidenz vermeidbare Erkrankungen und Todesfälle und einen Kollaps des Gesundheitswesens billigend in Kauf genommen. Wohl gab es auch für die in Notrecht angeordneten Massnahmen keine wirklich belastbare Evidenz, aber der damalige Kenntnisstand rechtfertigte das Vorsichtsprinzip in logischer wie auch moralischer Hinsicht allemal. Wobei "Rechtfertigung" ein zu schwacher Begriff ist, "Sachzwang" wäre zutreffender.
Ja: Es war schon seinerzeit absehbar, dass mit den getroffenen Massnahmen eine substanzielle Delle in die Volkswirtschaft geschlagen wird. Ökonomische Schäden sind jedoch üblicherweise heilbar, eine nachhaltig ruinierte Gesundheit (chronische Erkrankung / bleibende Beeinträchtigung) hingegen kaum. Und eine final ruinierte Gesundheit (Tod) schon grad gar nicht. Auch ja: Studien legen nahe, dass eine wirtschaftliche Delle und damit verbundene höhere Arbeitslosigkeit ebenfalls zu Leid und Tod führen kann. Aber damals war die Annahme vernünftig, die direkten gesundheitlichen Folgen einer entfesselten Pandemie seien weitaus schlimmer als die indirekten gesundheitlichen Folgen eines Lockdowns. Wer demnach bereit ist, in der Frühphase einer wissenschaftlich kaum verstandenen Pandemie auf dem Altar der Wirtschaft die Gesundheit und das Leben einer unabsehbaren Zahl von Menschen zu opfern, ist in meinen Augen nichts weniger als ein vollendeter, misanthropischer Charakterlump.
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