Der zweite Teil ist der jüngeren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewidmet. Er will grob aufzeigen, welche drei Strategien zur Pandemiebewältigung existieren. Die kritische Würdigung dieser Strategien bleibt dem letzten Teil der Reihe vorbehalten.
Die letzten Monate und der aktuelle Stand
Per 22. Juni 2020 und danach hob der Bundesrat nahezu alle pandemiebedingten Schutzmassnahmen wieder auf, am 19. Juni 2020 war die Rückstufung auf "besondere Lage" gemäss Epidemiengesetz erfolgt. Die untenstehenden, landesweiten Gebote und Pflichten verblieben per Veröffentlichungsdatum dieses Beitrags oder wurden seither zusätzlich angeordnet:
Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr und in Flugzeugen sowie bei Kundgebungen
Schutzkonzepte für Betriebe, Einrichtungen und Veranstaltungen
Quarantäne bei Einreise aus Risikogebieten und weitere Einreisebeschränkungen
In einigen Kantonen wurde darüber hinaus eine Maskenpflicht in Einkaufsgeschäften verfügt. Daneben gelten weiterhin einige Massnahmen mit lediglich empfehlendem Charakter:
Abstand halten und Hygiene beachten; Maske tragen, wenn Abstandhalten unmöglich
Sich bei Symptomen testen lassen und Isolation bzw. Quarantäne einhalten
Contact Tracing unterstützen durch Angabe der Kontaktdaten und/oder Download der App
Auf den ersten Blick scheint es sich bei den verbindliche Vorgaben um nur noch sehr wenige zu handeln. Nicht unerwähnt bleiben darf dabei jedoch die Tatsache, dass mittels der Schutzkonzepte faktisch eine Pflicht besteht, u.a. für Mindestabstände und Hygiene zu sorgen sowie, wenn Abstandhalten nicht möglich ist, weitere Massnahmen zu treffen wie Homeoffice, Trennwände, Schutzausrüstung, Kontaktdaten aufnehmen usw. Dieselben Vorgaben bestehen auch für Unternehmen, die kein Schutzkonzept erstellen müssen, hier im Rahmen einer (temporären) Konkretisierung der gesetzlichen Fürsorgepflicht der Arbeitgeber. Hinzu kommt für alle Unternehmen die Pflicht, kranke Mitarbeitende unverzüglich zu isolieren sowie kantonsärztlich angeordnete Quarantänen zu befolgen.
Die relevanten Indikatoren - u.a. Neuinfektionen, Todesfälle, Hospitalisierungen, Positivrate - verharrten im Juni 2020 auf den tiefsten Werten seit Ausbruch der Pandemie. Ab etwa Anfang Juli 2020 setzte erneut ein bis heute ungebrochener, sich in den letzten Wochen akzentuierender Aufwärtstrend insbesondere bei den täglichen Neuinfektionen und der Positivrate ein. Die Hospitalisierungen und Todesfälle nahmen zwar ebenfalls wieder zu, dies aber auf einem noch vergleichsweise tiefen Niveau, weil die Neuinfektionen grösstenteils auf jüngere Menschen ausserhalb der Risikogruppen entfielen und in der Behandlung von COVID-19 Fortschritte erzielt worden sind. Eine sehr ähnliche Entwicklung ist auch in Deutschland und Österreich zu beobachten.
In anderen europäischen Ländern wie Frankreich und Spanien mit anfänglich noch strikteren Eingriffen (u.a. Ausgangssperren) war es zwar ebenfalls gelungen, die erste Welle zu brechen und zur Jahresmitte hin auf vergleichsweise tiefe Werte zu drücken. Jedoch stiegen auch in diesen Ländern die Fallzahlen nach zwei bis drei Monaten (Mai bis Juli) und darin erfolgter Lockerungen relativ schnell wieder stark an, sogar deutlich über die Werte der ersten Phase der Pandemie. Die Hospitalisierungen und Todesfälle blieben aber, obschon zunehmend, ebenfalls unterhalb der Werte von März und April.
Wir wissen, dass wir nun mehr wissen
Für diverse zu Anfang der Pandemie bestehende Fragen fand die Wissenschaft inzwischen Antworten oder zumindest Erklärungsansätze mit besseren Wahrscheinlichkeiten. Inzwischen wissen wir u.a.:
Übertragungswege: Das Virus wird hauptsächlich durch Tröpfcheninfektion beim Atmen, Sprechen, Husten und Niesen verbreitet. Höchstwahrscheinlich spielen auch Aerosole bei der Übertragung eine Rolle, insbesondere in geschlossenen, unzureichend belüfteten Räumen. Eine japanische Studie schätzte im Frühjahr, dass eine Übertragung in geschlossenen Räumen etwa 20 mal wahrscheinlicher sei als im Freien.
Infektiosität: Hohe Ansteckungsgefahr geht von Erkrankten mit Symptomen aus. Ein relevanter Anteil steckt sich auch bei Personen in der Inkubationszeit an, die noch keine Symptome zeigen. Nur geringfügig ansteckend sind wohl Infizierte, die gar keine Symptome entwickeln.
Schutzmassnahmen: Abstandhalten und Gesichtsmasken (bei unzureichendem Abstand) sowie Handhygiene bieten nach aktuellem Kenntnisstand den besten Schutz vor einer Infektion.
Risikogruppen: An den ursprünglichen Erkenntnissen hat sich nur wenig verändert, noch immer gelten ältere Menschen sowie Vorerkrankte als primäre Risikogruppen.
Dunkelziffer: Aktuell wird angenommen, die tatsächliche Zahl der Infizierten liege ungefähr um einen Faktor 10 über jener der bestätigt Infizierten.
Manifestationsindex: Das RKI schätzt, dass zwischen 55 und 85% der bestätigt Infizierten auch tatsächlich erkranken, d.h. nach der Ansteckung irgendeine Form von Symptomen bilden.
Erkrankung: COVID-19 zeigt sich im Erkrankungsfall mannigfaltig. Sehr häufig sind Lungenentzündungen, es werden jedoch u.a. auch neurologische Erscheinungen, Herz-Kreislauf-Symptome und Störungen von Nieren und Leber beobachtet.
Therapie: Der Wissensstand über die Behandlung von COVID-19 hat sich seit Beginn der Pandemie deutlich verbessert, insbesondere auch im medikamentösen Bereich.
Hospitalisierung: Die Angaben zur Hospitalisierungsrate schwanken je nach Quelle stark. Es wird von 5 bis 15% der bestätigt Infizierten ausgegangen, die hospitalisiert werden müssen. Die durchschnittliche Dauer eines Krankhausaufenthalts wird mit 8 bis 10 Tagen angegeben.
Intensivstation: Etwa 8 bis 14% der hospitalisierten Personen müssen auf die Intensivstation verlegt werden. Hier beträgt die Aufenthaltsdauer je nach Behandlung im Mittel zwischen 8 und 18 Tagen. Ungefähr ein Drittel der an COVID-19 erkrankten Patienten auf Intensivstation verstirbt.
Sterblichkeit: Lebensgefährlich ist das neue Virus insbesondere für die Risikogruppen. Während bis zu einem Alter von etwa 50 Jahren und ohne Vorerkrankungen keine hohe Sterblichkeit vorliegt, führt eine Infektion mit SARS-CoV-2 im höheren Alter und/oder mit Vorerkrankungen in ungefähr 10% der Fälle zum Tod. Im Mittel ist eine Ansteckung mit SARS-CoV-2 etwa mit einem fünf- bis zehnmal höheren Todesrisiko verbunden als eine Influenzainfektion, einige Schätzungen gehen sogar von einer bis zu hundertfach höheren Letalität aus.
Was ebenfalls wieder ins (Ge-) Wissen gerückt ist: Ein Abschwung der Weltwirtschaft hat in aller Regel verheerende Konsequenzen insbesondere für ärmere Länder. Dies war bereits während und nach der Finanzkrise 2008 zu beobachten und tritt nun aufgrund der Pandemie erneut auf. Gemäss einem Bericht der Weltbank werden aufgrund der Corona-Krise weit über 100 Millionen Menschen in absolute Armut zurückfallen - und Armut bedeutet Krankheit und Tod, weil damit insbesondere Mangelernährung und eine schlechte Gesundheitsversorgung verknüpft sind. Ungeklärt ist jedoch, welchen Anteil an dieser Misere die Pandemie an sich hat und welcher Anteil auf die von den Nationen ergriffenen Massnahmen zurückgeht.
Aber wir wissen noch immer nicht genug
Obschon für viele Fragen besser erforschte Antworten vorliegen, kann gleichwohl keine Rede davon sein, die Menschheit habe SARS-CoV-2 und COVID-19 abschliessend verstanden. Weiterhin nicht oder nicht ausreichend geklärt sind im Wesentlichen:
Wo stecken sich die Menschen mit welcher Häufigkeit an?
Welche nicht-medizinischen Massnahmen haben welchen Nutzen und (Kollateral-) Schaden?
Welche Spät- und Langzeitfolgen einer Erkrankung treten wie häufig auf?
Wie verhält es sich mit einer erworbenen Immunität?
Wann liegt ein Impfstoff vor und wie wirksam wird er sein?
Wie weiter?
Im Grunde gibt es damals wie heute drei mögliche Vorgehensweisen, um einer Pandemie zu begegnen:
Voll aufs Gas treten (Durchseuchung)
Voll auf die Bremse latschen (Ausrottung)
Mal so, mal so (Eindämmung)
Wir wollen diese drei Varianten in der Folge näher unter die Lupe nehmen.
Durchseuchung
Schon zur Beginn der Pandemie waren Einzelne der Auffassung, man solle keinerlei Massnahmen ergreifen und stattdessen auf eine rasche Durchseuchung setzen, um alsbald eine Herdenimmunität zu erreichen. Weshalb eine solche Vorgehensweise im Anfangsstadium einer Pandemie zu verurteilen ist, habe ich im ersten Teil dieses Beitrags bereits dargelegt. Später wurde dann, ebenfalls von Einzelnen, eine sogenannt differenzierte Durchseuchung zur Sprache gebracht. Gemäss diesem Konzept sollen einerseits die Risikogruppen geschützt, andererseits aber in den übrigen Bevölkerungsteilen eine Ausbreitung des Virus mehr oder minder kontrolliert zugelassen werden, nämlich optimalerweise im Rahmen der verfügbaren Kapazitäten des Gesundheitssystems. Auch die differenzierte Durchseuchung verfolgt somit letztlich das Ziel einer Herdenimmunität.
Würde die Schweiz heute eine Strategie der differenzierten Durchseuchung in Angriff nehmen, so wäre im günstigsten Fall bei einer Letalität von 0,1% mit ungefähr 5'000 weiteren Todesopfern zu rechnen, bis dass eine 70%ige Herdenimmunität erreicht wäre. Hinzu käme eine derzeit nicht abschätzbare Zahl von Menschen, die womöglich an Spätfolgen zu leiden hätten. Dieser günstigste Fall hat überdies einige Bedingungen und Voraussetzungen: Erstens müssen die Risikogruppen perfekt geschützt werden, zweitens darf das Gesundheitssystem zu keinem Zeitpunkt überlastet sein, drittens muss die erworbene Immunität dauerhaften Charakter haben, viertens dürfen immunisierte Personen nicht mehr ansteckend sein und fünftens darf das Virus derweil nicht in eine gefährlichere Form mutieren.
Ausrottung
Theoretisch wäre denkbar, das Virus innerhalb der Schweiz mit strengsten Massnahmen wie einem erneuten Lockdown, Schliessung der Landesgrenzen, Ausgangssperren usw. vollständig auszuhungern. Inzwischen hat sich das Virus aber bis auf ein paar wenige Inselstaaten im pazifischen Ozean sowie (wer's glaubt wird selig) Turkmenistan und Nordkorea über die gesamte Welt ausgebreitet; gemäss einer Schätzung der WHO haben sich möglicherweise bereits 10% aller Menschen weltweit infiziert. Ergo müsste sich das Binnenland Schweiz in einer Ausrottungsstrategie für eine unabsehbar lange Zeit annähernd komplett abschotten und ein quasi-diktatorisches Notrechtsregime aufziehen, was mit höchster Wahrscheinlichkeit kurz- bis mittelfristig zu einem vollständigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kollaps, endlich auch zum Staatsbankrott führte.
Eindämmung
Derzeit setzen die meisten europäischen Regierungen auf eine Fortführung der ursprünglich gefassten Eindämmungsstrategie: Nachdem die anfänglich exponentielle Ausbreitung mit einschneidenden Massnahmen erfolgreich unterdrückt worden war, spielt man nun auf Zeit und setzt quasi aufs Prinzip Hoffnung. Diese Hoffnung besteht hauptsächlich darin, innert nützlicher Frist liege ein unbedenkliches und nachhaltig wirksames Vakzin vor, sodass die Herdenimmunität via Impfung erzielt werden könne. Oder aber man finde indessen ein Heilmittel gegen COVID-19.
Bis dahin soll die Gesundheit der Bevölkerung mit möglichst wenigen und bestenfalls minimalinvasiven Massnahmen geschützt werden, ohne gleichzeitig die Wirtschaft mit eben diesen Massnahmen substanziell zu beeinträchtigen. Bei ungünstiger epidemiologischer Entwicklung bleibt eine Wiederverschärfung der Massnahmen vorbehalten, auch und gerade mit Blick auf die Kapazitäten des Gesundheitswesens. Solche Wiederverschärfungen wurden in einzelnen Regionen und Ländern auch bereits realisiert, in aller Regel zuerst durch eine Ausweitung der Maskenpflicht. Die Eindämmung ist demnach in etwa eine "stop and go"-Strategie.
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