Die meisten Passanten auf dem Dorfplatz tragen ihre Jacken noch offen. Es ist ungewöhnlich mild für einen Nachmittag im späten November, satte sieben Grad zeigt das Thermometer. Die Luft riecht bereits nach Winter, aber der Atem weigert sich beharrlich vor den Gesichtern zu kondensieren. Eine schon ziemlich tief stehende Sonne schickt ihre wärmenden Strahlen durch die Häuserschluchten.
Beim leise plätschernden Brunnen vor dem Zivilstandsamt wartet eine fein herausgeputzte Gruppe junger Erwachsener und plaudert heiter. Jene, die keine Maske tragen, lächeln. Man steht an der Sonne, meidet den Schattenwurf des Weihnachtsbaums. Die Männer vom Bauamt haben ihn zeitig aufgestellt, aber noch nicht geschmückt. Ein etwa vierjähriges Mädchen sammelt eifrig Rosenblätter vom Boden auf, die Vermählung ging wohl bereits über die Bühne. Ein zweites, etwas älteres Mädchen rennt glucksend umher - vielleicht einzig aus heller Freude am Umherrennen. Irgendwo knattert ein Laubbläser aufdringlich, als ob den Menschen in Erinnerung gerufen werden müsste: Es ist schon Spätherbst, seid doch gefälligst etwas deprimiert!
Die alternative Buchhandlung gleich gegenüber dem Brunnen liegt im Schatten, hier ist es merklich dunkler und kühler. Der Inhaber bringt seinen aktualisierten Aushang an der Innenseite des mittleren Schaufensters an. Darauf ist zu lesen, wie viele Menschen seit Beginn der Pandemie verstorben sind und diese Opferzahl setzt er ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Daneben hängt ein Schmähgedicht, es beginnt mit «Jetzt ist der Schwindel aufgeflogen: Corona frei erfunden und erlogen!». In der Auslage darunter stehen Bücher mit Titeln wie «Wer regiert die Welt?» oder «Corona Fehlalarm?».
«Sehen Sie hier», sagt der Buchhändler mit finsterer Miene, «nicht mal 0.03% der Einwohner sind bisher mit dem Virus gestorben - und dafür veranstalten unsere Behörden diesen Riesenzirkus, der mehr Schaden anrichtet als das Virus selbst?!» Er bezeichnet sich als «differenziert denkenden Menschen». Er sei «kein Schlafschaf, das blind und blöd der Herde nachtrottet und alles glaubt, was die Obrigkeit erzählt». Rasch redet sich der Buchhändler in Rage, berichtet über den finsteren Geheimplan der Welteliten, die Menschheit mit einer aufgezwungenen Impfung zu unterjochen, sie ihrer Grundrechte zu berauben. Man dürfe sich doch nicht bei den Mainstreammedien informieren, erwidert er mürrisch auf den scheuen Versuch einer Gegenargumentation, auch diese würden durch die Eliten kontrolliert und verbreiteten schamlos ihre Lügen. Selbständig zu denken sei das Gebot dieser düsteren Stunde, mahnt er mit erhobenem Zeigefinger.
Die gut gelaunte Gruppe vor dem Zivilstandsamt wurde inzwischen von einem doppelstöckigen, knallroten Londonbus abgeholt. Nur ein sich allmählich verflüchtigender Dunst Dieselabgase zeugt noch von der Anwesenheit des Oldtimers. Der Weihnachtsbaum vor dem Brunnen steht nun wieder verlassen da. Womöglich sollte das Bauamt etwas mehr Schmuckwerk und Geleucht anbringen als in anderen Jahren. Einige Gemüter brauchen heuer sicherlich zusätzliches Licht.
Diesen Beitrag verfasste "yours truly" im Rahmen der Aufgabenstellung "schreibt ein Schaufenster" in der Grundstufe Journalismus an der SAL.
Comments