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Verhüllte Heuchelei

Aktualisiert: 14. März 2021

Am 7. März 2021 stimmt die Schweiz über die Volksinitiative "Ja zum Verhüllungsverbot" ab. Sie ist eine Sternstunde der Symbolpolitik. Auch der indirekte Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament enthält Worthülsen, orientiert sich aber an den Problemursachen.

Bild: Pixabay.com (6335159)


Die Volksinitiative "Ja zum Verhüllungsverbot" will die Bundesverfassung um einen Passus erweitern, wonach die Verhüllung des Gesichts im öffentlichen Raum zu verbieten sei. Gewisse Ausnahmen sind gemäss Initiativtext vorgesehen, namentlich: Verhüllung aus Gründen der Gesundheit, der Sicherheit, der klimatischen Bedingungen und des einheimischen Brauchtums. Im Weiteren soll unter Strafe gestellt werden, eine andere Person zur Gesichtsverhüllung zu zwingen.


Bundesrat und Parlament empfehlen die Initiative zur Ablehnung und den indirekten Gegenvorschlag zur Annahme. Dieser entspricht einem neuen "Bundesgesetz über die Gesichtsverhüllung", das eine Pflicht zur Enthüllung des Gesichtes gegenüber Schweizer Behörden vorsieht, die eine Person identifizieren müssen. Im Weiteren will das neue Gesetz die Anliegen von Frauen, Kindern und Jugendlichen fortan besser berücksichtigen und fördern (Integration, Gleichstellung, Entwicklungshilfe).


Gesicht zeigen

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMGR) argumentierte bei der Bestätigung von u.a. in Belgien und Frankreich verhängten Verhüllungsverboten, das Recht der Gesellschaft, im öffentlichen Raum die Gesichter der Mitmenschen zu sehen, sei höher zu gewichten als das individuelle Recht auf Verhüllung des eigenen Gesichtes. Die Richter waren der Auffassung, eine Demokratie sei nur mehr bedingt funktionsfähig, wenn einzelne Menschen ihre Gesichter verhüllten, weil dadurch Kommunikation und Interaktion in zwischenmenschlichen Beziehungen erschwert würden. Es sei nachgerade eine Grundbedingung des Zusammenlebens, dass alle ihr Gesicht zeigten.


Nun ist rein intuitiv nichts gegen diese Begründung einzuwenden. Wie wir alle spätestens in Zeiten der Pandemie bemerkt haben, macht eine Maske die Kommunikation nicht eben leichter. Die Frage ist also nicht, ob es in einer offenen Gesellschaft wünschenswert wäre, dass möglichst alle ihr Gesicht zeigen - das wäre es ganz eindeutig. Die Frage ist vielmehr, ob wir uns per Gesetz zwingen lassen wollen, im öffentlichen Raum bis auf bestimmte Ausnahmen stets unser Gesicht zu zeigen.


Nicht alles Wünschenswerte muss in Gesetze gegossen werden, nicht alles Unmoralische ist mit Strafverfolgung zu bewehren. So wäre beispielsweise zwar wünschenswert, dass Menschen nicht mehr lügen. Ein gesetzlich verankertes Lügenverbot wäre dennoch Irrsinn, darob könnten wir nämlich schon mal die Stimmbänder ölen für den Abgesang auf die Freiheit.


Gerade die Pandemie oder auch die verbreitete Nutzung von Gesichtsmasken in asiatischen Staaten führen den Beweis, dass Gesellschaften dennoch funktionieren. Nicht besser als unverhüllt, aber sie funktionieren. Zudem: Blinde Menschen sind vollwertige und gleichberechtigte Mitglieder unserer Gesellschaft, obschon sie keine Gesichter sehen können. Und letztlich sollte man sich bitte noch die Verhältnismässigkeit vor Augen führen: Wie viele Menschen laufen heutzutage in unseren Breitengraden vermummt durch die Gegend, wenn nicht gerade eine Pandemie tobt? Genau: Fast niemand.


Wenn nun aber ein Zusammenleben auch mit Gesichtsverhüllung möglich ist und wenn gleichzeitig kaum jemand sein Gesicht in der Öffentlichkeit verhüllt: Wozu braucht es dann ein Verhüllungsverbot?


Täter und Opfer

Niemand darf von anderen Personen zur Gesichtsverhüllung gezwungen werden. Für solcherlei Zwänge besteht der Straftatbestand der Nötigung gemäss Art. 181 StGB und dieser wird, da es sich um ein Offizialdelikt handelt, von Amtes wegen verfolgt. Die Täter- und Opferrollen sind hier glasklar verteilt.


Dennoch sind gewisse Menschen der Auffassung, diese Gesetzesgrundlage sei nicht ausreichend, eine Ablehnung der Initiative "Ja zum Verhüllungsverbot" käme einem Täterschutz gleich. Diese Auffassung ist meines Erachtens absurd. Zur Veranschaulichung: Gewisse Männer verprügeln ihre Frauen. Wäre es nun Täterschutz, wenn man eine fiktive Initiative "Ja zum Blutergussverbot" ablehnte, die eine öffentliche Zurschaustellung blauer Flecken unter Strafe stellt? Nein, wäre es nicht, weil eben nicht die äusserlich wahrnehmbaren Folgen einer Handlung kriminell sind, sondern die sie verursachenden Handlungen. Wirksame, vernünftige Rechtsnormen sollen Ursachen bekämpfen, nicht Symptome. Mit Gesetzen sollen Handlungen direkt geahndet werden, nicht indirekt über ihre Handlungsfolgen.


Wie verhält es sich nun aber, wenn sich eine Person ohne jeden äusseren Zwang verhüllen möchte? Einige Stimmen wie z.B. die Menschenrechtsaktivistin Saïda Keller-Messahli vertreten die Meinung, durch eine freiwillige Verhüllung mache sich eine Frau zur Täterin. Begründung: Mit der Verhüllung werde ein entwürdigendes Frauenbild fernab des Gleichstellungsprinzips transportiert, da die Verhüllung an sich ein Symbol der Unterdrückung von Frauen sei. Deshalb sei die Verhüllung zu verbieten, um damit dem politischen Islam die Kommunikation seiner unaufgeklärten Werte via Bekleidung zu untersagen.


Nun: Ist diese Sichtweise mit einer liberalen Gesellschaftsordnung vereinbar? Weshalb sollte man nicht auch die Freiheit haben, sich selbst zu erniedrigen und entwürdigen? Weshalb sollte verboten werden, Symbole der Unterdrückung offen zur Schau zu tragen?


Fragwürdige Doppelmoral

In nahezu jedem Pornofilm wird die weibliche Darstellerin erniedrigt und entwürdigt, von Prostitution schon gar nicht erst zu reden. In gewissen Reality- und Trash-TV-Formaten werden Menschen in einer für sie, milde formuliert, eher wenig vorteilhaften Weise vorgeführt. Frauen, die sich ihren Männern freiwillig als Heimchen unterordnen, können dies ungehindert tun - und vice versa. Obschon in diesen beispielhaft aufgeführten Bereichen (vermeintlich) kein Zwang besteht, finden sich gleichwohl keine politischen Mehrheiten für entsprechende Verbote. Hier sind Erniedrigung und Entwürdigung also quasi gesellschaftlich akzeptiert, weil sie (vermeintlich) auf freiwilliger Basis erfolgen.


Unter anderen lässt die römisch-katholische Kirche bis heute keine Frauenordination zu, d.h. Frauen wird die Zulassung zu geistlichen Ämtern innerhalb dieser Kirche verwehrt. Eine Missachtung der Gleichstellung der Geschlechter also, wie sie offenkundiger kaum sein könnte. Trotzdem werden keine Gegenmassnahmen getroffen, und die Symbole der römisch-katholischen Kirche dürfen ohne jede Einschränkung öffentlich gezeigt werden, obschon man das Kruzifix heutzutage gemessen an der ausufernden Zahl der Fälle im Übrigen gut und gerne auch als Symbol für Pädophilie ansehen könnte.


Zulässig ist heute auch, sich in einem Sklavengewand (gemeint ist Sklaverei im historischen Sinne, aber man darf sich da meinetwegen gerne auch Sexsklaven vorstellen) im öffentlichen Raum aufzuhalten oder sich einen Judenstern ans Revers zu heften - beides geradezu paradigmatische Symbole abscheulichster Verbrechen. Auch Bilder von Waffen dürfen unbehindert verbreitet werden, obgleich im Verlaufe der Geschichte wohl schon Milliarden Menschen durch Waffen unterdrückt und getötet wurden.


Worauf ich hinaus will: Sofern wir wirklich Symbole der Unterdrückung im öffentlichen Raum verbieten wollen, dann aber bitte konsequent. Ich meine jedoch, dass wir damit besser schon gar nicht erst anfangen sollten, weil Symbole an sich wertneutral sind und oft viele Deutungsinhalte haben, siehe Swastika. Eine Gesetzgebung, die Symbole bekämpft, kann keine freiheitliche Gesetzgebung sein, sie wäre der Übergang zur Gesinnungsdiktatur.


Zusammenfassend

Ich lehne die Initiative "Ja zum Verhüllungsverbot" ganz entschieden ab und werde dem indirekten Gegenvorschlag zustimmen. In einer liberalen, toleranten Gesellschaft soll man auch die Freiheit haben, sich unsinnig oder falsch zu verhalten, solange dadurch keine Dritten zu Schaden kommen. Wenn eine Frau freiwillig den Niqab überstreift, kommt niemand zu Schaden. Wird sie aber dazu gezwungen, ist die nötigende Person auf Basis geltenden Rechts strafrechtlich zu verfolgen und belangen.


Menschenrechte müssen durchgesetzt und jegliche Diskriminierung muss bekämpft werden. Dies hat im demokratischen Rechtsstaat in dem Sinne zu erfolgen, dass allen Menschen die Wahrnehmung solcher Freiheiten und Rechte uneingeschränkt ermöglicht und eine Gleichstellung gewährleistet wird. Die tatsächliche Wahrnehmung dieser Freiheiten und Rechte und auch die individuelle Auslegung der Gleichstellung fürs eigene Leben sollen hingegen freiwillig und selbstbestimmt erfolgen. Wer wirklich freiwillig unfrei sein will, soll dazu die Freiheit haben.


Der Vollständigkeit halber: Wenn die Kantone punktuelle Verhüllungsverbote beispielsweise für politische Kundgebungen oder Sportstadien erlassen, wo erfahrungsgemäss gehäuft strafbare Handlungen durch eine vermummte Täterschaft auftreten, dann halte ich das für völlig legitim. Dieses Recht haben die Kantone bereits und eine Mehrheit davon nimmt es auch wahr. Ebenso legitim ist es, wenn Firmen und öffentliche Verwaltungen ihren Angestellten religiöse Symbole oder Gesichtsverhüllung untersagen.


Epilog: Verhüllte Heuchelei

Zum Abschluss ist noch mit den Initianten abzurechnen, sie verdienen es nicht besser. Das "Egerkinger Komitee" ist ein Verein, der gemäss seinen Statuten "die Aufklärung der Bevölkerung über Ausmass und Folgen der Islamisierung der Schweiz" bezweckt. Da wird schnell klar, worum es eigentlich geht: Der Islam an sich ist böse und hat im guten, alten Heimatland schon mal grundsätzlich nichts verloren.


Die übliche Masche des Rechtspopulismus also: Ein Schuldiger muss her. Dass sich die nicht mal 0,5 Mio. Muslime in der Schweiz ungefähr 5,5 Mio. Christen und ca. 2,5 Mio. komplett ungläubigem Gesocks gegenüber sehen und sich somit heftigst einen abmissionieren müssten, bevor in Helvetien endlich die Scharia eingeführt werden kann: Interessiert den durchschnittlichen Stammtisch-Xenophobiker nicht.


Aber lassen wir das, kommen wir zur etwas besser verhüllten Heuchelei. Die Initianten, mehrheitlich SVP-Parteigänger, wollen mit Freiheit punkten: "Freie Menschen zeigen Gesicht", heisst es da. Diese Freiheit soll nun per Verfassung oktroyiert werden, d.h. die Freiheit, sein Gesicht nicht mehr zu zeigen, soll verschwinden. Seltsam. Ich dachte bislang immer, Freiheit sei, wenn man eine Wahl habe.


Dann zitiert das "Egerkinger Komitee" freimütig das Urteil des EMGR, wonach ein Verbot von Burka und Niqab keine Menschenrechte verletze. Das sieht der UN-Menschenrechtsausschuss zwar anders, aber egal. Auffällig ist hier, wie gerade SVP-Exponenten ansonsten regelmässig dem EMGR oder ähnlichen internationalen Gremien die Relevanz für hiesige Belange absprechen (Volksinitiative "Schweizer Recht statt fremde Richter"). Wenn's jedoch gerade in den Kram passt, dann passt's eben.


Alsdann zu den diversen Ausnahmen, und davon gibt es nicht wenige. Besonders ins Auge sticht die Ausnahmeregelung für einheimisches Brauchtum. Die Klageweiber im freiburgischen Romont dürften demnach weiterhin in voller Verschleierung ihre christliche Prozession am Karfreitag durchführen, wohingegen eine Muslima, die dem Treiben im freiwillig übergestreiften Niqab zusieht, neu eine Strafverfolgung zu gewärtigen hätte. Prima Kulturkampf, brauner Fugenkitt für die Gesellschaft.


Zu schlechter Letzt bekämpfen "Egerkinger Komitee" und SVP stets gerade jene politischen Vorstösse, die geeignet wären, den eigentlichen Ursachen der Unterdrückung von Frauen entgegen zu wirken: Entwicklungshilfe, Beseitigung von Armut, Bildung, Frauenhäuser, klarer Stellungsbezug der Schweiz gegenüber Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern, Rassismus-Strafnorm, Teilnahme in internationalen Organisationen, Lohngleichheit, Konzernverantwortungsinitiative usw. usf.


Mehr heuchlerische Symbolpolitik wurde selten in eine Initiative verpackt. Auf Plakaten wird sie mit dem griffigen Slogan "Extremismus stoppen" beworben. Ja, da bin ich voll dafür - aber bitte angewendet aufs "Egerkinger Komitee". Mit solcherlei freiheits- und demokratiefeindlichem Denken werden lediglich Spaltung und Ausgrenzung vorangetrieben, aber keine Probleme gelöst. Rechtspopulismus halt.

3 Kommentare

3 Comments


Chatty Avocado
Chatty Avocado
Feb 04, 2021

Herzlichsten Dank für die Blumen @Ivana C und svengrueter... :-)

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svengrueter
Feb 03, 2021

Kann mich Ivana C nur anschliessen!

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Ivana C
Ivana C
Feb 03, 2021

Phantastisch:

Ein sehr wichtiges Thema auf den Punkt gebracht mit dem tollen verbosus-Charme geschrieben.

Bitte mehr davon! 👏🙏

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nachschlag

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