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AutorenbildSusanne Thaler

[Gastbeitrag] Von Riesen und Zwergen

Aktualisiert: 24. Juli 2021

Die Student*innen der im Spätherbst gestarteten SAL-Studiengänge haben sich noch nie persönlich getroffen. Sie kennen sich nur vom Onlineunterricht. Was bedeutet das für die Klassendynamik, die per Definition nur bei persönlichem Kontakt entsteht?

Bild: Pixabay.com (HaticeEROL)


Aus die Maus

Ich bin sicher, es gibt sie wirklich, meine Studienkolleg*innen. Sie sind Gesichter auf kleinen Galeriebildchen, die ich proportional vergrössern oder verkleinern kann, wenn mir danach ist. Sie merken es nicht. Zwei Tage pro Woche schauen sie in mein Arbeitszimmer und ich schaue in ihres. Mein eigenes Bildchen fügt sich in die Reihe ein. Wir gucken alle in dieselbe Richtung, nie einander an. Ich habe auch noch nie einen von ihnen alleine erwischt, es gibt uns nur als Sammelausstellung.


Ich wünsche mir einen schiefen Blick für mich alleine, ein Zwinkern, einen verkniffenen Mund. Denk bloss, all die Zigis, die ich nicht geschnorrt habe! All die Scherze, die ich nicht gemacht habe! Es gibt keine Spontaneität und daher keinen Humor. Wir lachen höchstens ganz verhalten. Überflüssige Geräusche müssen wir vermeiden, damit der Dozent nicht unterbrochen wird. Das Online-Programm lässt nur einen Sprecher zu.


Wir tratschen nicht über Dozent*innen, erzählen keine Erlebnisse, schubsen uns nicht mit den Ellenbogen, hänseln uns nicht in fröhlichen Pausen und wir meckern nicht rum auf dem Weg zum Bahnhof. Wir wissen nichts darüber, wie schwierig der andere die letzte Aufgabe gefunden hat. Wir sind ernst und konzentrieren uns. Nach dem Unterricht sind sie dann alle plötzlich weg, innerhalb einer Sekunde, unfassbar. Aus die Maus.


Fremd und doch vertraut

Gefühle sind biochemische Prozesse. Sie sind nicht unbedingt verankert in der Realität. Manchmal liebe ich meine Bildchen, dann wieder fürchte ich sie. Dafür brauche ich sie nicht einmal. Und doch brauchte ich sie - als Trigger, egal wie fern und schweigsam. Denn eine eingeschränkte Kommunikation ist tausend Mal besser als keine Kommunikation. Und so kommt es, dass ich diese zweidimensionalen Menschen inzwischen richtig gernhabe, auch wenn’s etwas gedauert hat. Ich habe sie gefragt, ob es ihnen ähnlich geht.


Gefühlswelt der Bildchen

Ja, die Gefühlswelt meiner Kommiliton*innen hat gemäss meiner Umfrage ebenfalls eine Entwicklung durchlaufen. Sie sind einhellig der Meinung, die Gruppenzusammengehörigkeit der Klasse sei im Verlauf der letzten drei Monaten gewachsen. Wie merken wir das? Wir merken, dass wir auf das Wohlwollen der andern vertrauen, ihnen trauen, uns fallen lassen können.


Eine Mehrheit der Klasse findet, dass sie die Kolleg*innen lieber mögen als am Anfang. Es hat sich Zuneigung entwickelt in der Gruppe. Da habe ich aber Glück gehabt! Doch Moment, mit Glück hat das nichts zu tun. Soziale Kooperation hat den Homo Sapiens erst gross gemacht. Wir funktionieren eben auch jetzt noch genau so wie die ersten Menschen: Kaum konnten sie ein paar Worte, entwickelten sie schon die Gruppenzugehörigkeit. Wenn man sich mag, macht das Leben viel mehr Spass. Das hat der Evolution gewaltig Schub verliehen.


Die Bäuche der Anderen

Unser Gruppengefühl gibt es nicht wegen des Online-Unterrichts, bewahre, sondern trotzdem, trotz aller Widrigkeiten! Wir sind im Grunde einfach soziale Wesen, die bei nicht artgerechter Haltung automatisch ihre Möglichkeiten optimieren. Die Einschränkungen werden kompensiert, ohne dass wir jemals etwas absprechen müssen. Heraus kommt ein zaghafter, aber belastbarer Gruppenzusammenhalt, den offenbar alle an ihrem Ende der Leitung erfahren.


Meine Studienkolleg*innen habe ich noch nie am Stück gesehen. Sie könnten Riesen sein oder Zwerge. Sie haben mich noch nie von hinten gesehen, sie würden mich nicht am Gang erkennen. Ich kenne weder ihr Profil noch ihre Bäuche.


Und trotzdem, so scheint es, sind wir zu einer Klasse gewachsen.


 

Dieser Gastbeitrag stammt aus der Feder von Susanne Thaler, Mitstudentin von "yours truly" in der Grundstufe Journalismus an der SAL.

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