Yours truly wurde kürzlich via Twitter auf coronaaussoehnung.org aufmerksam. Ein interdisziplinäres Autor*innenkollektiv hat dort einen Text zur Corona-Krise publiziert, der einen Beitrag zur Überwindung der aktuellen gesellschaftlichen Spaltung leisten will. Eine Replik.
Bild: Pixabay.com (geralt)
Hier zunächst der Text, auf den sich meine Replik bezieht (keine Sorge, man braucht diese 68 Seiten nicht unbedingt zu lesen, um meine Replik zu verstehen):
Nachfolgend die Replik, die ich per Mail (unter meinem echten Namen) an zwei der Verfasser sandte. Zuerst das Begleitmail, anschliessend der eigentliche Text.
Lieber Herr Felber, lieber Herr Huber
Über den Twitter-Account von Ulrike Guérot bin ich kürzlich auf den Text «Covid-19 ins Verhältnis setzen - Alternativen zu Lockdown und Laufenlassen» aufmerksam geworden.
Ich befasse mich seit Beginn der Pandemie relativ eingehend mit dieser Thematik. Einerseits weil ich auf meinem kleinen Blog (www.verbosus.ch) u.a. auch darüber meine Gedanken verschriftliche, andererseits weil ich seit vergangenem Jahr Ethik studiere und mich die Pandemie auch und gerade hinsichtlich ihrer moralischen Aspekte stark interessiert.
Ihr Dokument habe ich aufmerksam studiert und möchte Ihnen nun ein Feedback dazu geben. Im Wesentlichen versuche ich darzulegen, weshalb ich (Un-) Verhältnismässigkeit für ein untaugliches Kriterium halte, was sich daraus für die Pandemiebewältigung ergibt, und wie eine Aussöhnung dennoch möglich sein könnte. Ich hoffe, dass Sie meine Kritik so aufnehmen, wie ich diese adressieren möchte: Konstruktiv, sachlich und versöhnlich.
An dieser Stelle will ich nicht unerwähnt lassen, dass ich Ihren Vorschlägen im Kapitel 4 dennoch vollumfänglich und bedingungslos beipflichte. Auch und gerade deshalb habe ich mir die Zeit und Freiheit genommen, Sie zu kontaktieren: Ich finde es hochgradig interessant, dass Menschen, die allem Anschein nach ein sehr ähnliches Weltbild teilen, in Sachen Pandemiebewältigung zu teilweise völlig anderen Schlüssen kommen.
Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen. Bleiben Sie gesund!
Verhältnismässigkeit
Zunächst unterstelle ich, dass das oberste Ziel einer Pandemiebewältigung darin bestehen muss, die aus der Krise erwachsende, globale Summe menschlichen Leids zu minimieren. Damit ist sowohl direktes, durch den Erreger unmittelbar verursachtes Leid in Form von Krankheit und Tod gemeint, als auch indirektes Leid in Form von Kollateralschäden, das entweder durch die Pandemie an sich, oder aber durch die zu ihrer Bewältigung ergriffenen Massnahmen entsteht. Pandemiebewältigung halte ich somit für eine genuin moralische Herausforderung, und ich werde diese Herausforderung daher im Folgenden zuerst aus einer moralischen Perspektive angehen.
Um eine Pandemie in moralischer Hinsicht optimal zu bewältigen, müssen zunächst sämtliche einzelnen zur Disposition stehenden Gegenmassnahmen erhoben werden. Danach sind diese Einzelmassnahmen zu allen Ausprägungen von zweckmässigen Massnahmenbündeln zu kombinieren (diese Massnahmenbündel bezeichne ich fortan als Vorgehensweisen). Auf einer weiteren, separaten Ebene sind die Einzelmassnahmen und Vorgehensweisen zu unterteilen nach solchen mit staatlicher Zwangsdurchsetzung und nach solchen, deren freiwillige Umsetzung der individuellen Eigenverantwortung überlassen wird.
Sobald diese Auslegeordnung vollständig ist, wird für jede Vorgehensweise ermittelt, welche globale Summe menschlichen Leids durch sie direkt und indirekt entstünde bzw. verhindert würde. Zu guter Letzt ist dann jene Vorgehensweise zu wählen und umzusetzen, die zur geringsten globalen Summe menschlichen Leids führt, sie ist moralisch geboten. Genau diese Vorgehensweise ist zugleich jene mit der optimalen Verhältnismässigkeit, weil in Bezug auf menschliches Leid das Optimum der Verhältnismässigkeit zwingend im moralisch Gebotenen bestehen muss.
Ein kurzer Einschub dazu: Die obige Betrachtungsweise folgt weitgehend den Prinzipien utilitaristischer Moraltheorien, die ich nicht unbedingt vollumfänglich teile. Ich meine jedoch, dass eine solche Betrachtungsweise für die Veranschaulichung der Herausforderung hilfreich ist und wohl auch andere Moraltheorien zum gleichen Ergebnis kämen.
Mit dem oben beschriebenen Evaluationsprozess für Massnahmen und Vorgehensweisen sind nun aber grundlegende Probleme verknüpft, die ich anhand einiger Beispiele illustriere:
Wie soll das vermiedene Leid aufgrund eines durch Massnahmen geretteten bzw. verlängerten Lebens einer 80-jährigen Westeuropäerin bewertet werden (gesetzt den Fall, die Person hätte die Rettung bzw. Verlängerung ihres Lebens gewünscht)?
Welches Gewicht muss das Leid einer in absolute Armut geratenen Südostasiatin im Vergleich zum Leid einer in relative Armut abgeglittenen Schweizerin haben?
Wie viele leichte, mittlere und schwere Depressionen dürfen für wie viele abgewendete Hospitalisierungen infolge Covid-19 in Kauf genommen werden (angenommen, die Depressionen wären der Vorgehensweise geschuldet)? Wie viele für abgewendete Verlegungen und künstliche Beatmungen in Intensivstationen?
In welchem Verhältnis steht das durch Jobverlust einer Kellnerin verursachte Leid zum Leid einer Intensivpflegerin, die wegen Überarbeitung ein Burnout erlitten hat?
Welchen Stellenwert hat das Leid aus einer erzwungenen Massnahme, z.B. der Maskenpflicht, und wie ist es gegen das verringerte Leid aufzurechnen, das sich aus dem Solidaritätsgefühl der Maskenpflichtbefolgung ergeben kann?
Die Konklusion aus diesen Beispielen: Das verursachte Leid der Vorgehensweisen zur Pandemiebewältigung (und sogar einzelner Massnahmen) ist weder objektiv bewertbar noch kommensurabel, und aller Wahrscheinlichkeit nach kann dieses Leid ohnehin nicht mal ansatzweise vollständig erhoben werden. Schon alleine aufgrund dieses Umstands ist die Verhältnismässigkeit jeder beliebigen Vorgehensweise quasi unmöglich mess- und damit nur völlig zufällig als Optimum herstellbar. Man wird demzufolge für die moralische Bilanz und also für die Verhältnismässigkeit einer beliebigen Vorgehensweise bestenfalls mit groben Annäherungen arbeiten können.
Zwei weitere Elemente beeinflussen das Problem, dass eine optimale Verhältnismässigkeit ihrem Wesen nach weder theoretisch bestimmbar, noch praktisch messbar und damit nicht gezielt herstellbar ist: Unvollständige Informationen und hoher Zeitdruck.
Nach wie vor bestehen zahlreiche Unklarheiten hinsichtlich der tatsächlichen Gefährlichkeit von Covid-19 und etwaiger künftiger Mutanten von SARS-CoV-2. Im Weiteren wissen wir noch immer viel zu wenig über die medizinische resp. direkte Wirksamkeit einzelner Massnahmen und Vorgehensweisen, und noch deutlich weniger über alle indirekten Folgen dieser Einzelmassnahmen und Vorgehensweisen in einer globalen Gesamtbetrachtung. Wir wissen überdies nicht, ob Zwangsmassnahmen einen besseren Beitrag zur Pandemiebewältigung liefern als freiwillige Massnahmen (und vice versa).
Unklar ist auch, welche indirekten Folgen die Pandemie per se zeitigt, d.h. ob und wenn ja in welchem Umfang Kollateralschäden auf die Krisensituation an sich zurückzuführen sind und selbst dann eingetreten wären, wenn man keine (Zwangs-) Massnahmen ergriffen hätte. Letztlich existieren möglicherweise bislang unbekannte oder noch zu wenig erforschte Determinanten der Pandemieentwicklung, womit insbesondere der Einfluss behördlicher und medialer Kommunikation auf Verhaltensänderungen der Bevölkerung gemeint ist.
Meiner Auffassung nach ist diese zwar sukzessive verbesserte, aber weiterhin latent unsichere und mit teils völlig konträren Interpretationen diskutierte Datenlage ein höchst bedeutsames Element, das in der Debatte zu wenig Beachtung findet. Um die Verhältnismässigkeit des Handelns nämlich überhaupt erst schlüssig beurteilen zu können, sei es nun pro- oder retrospektiv, ist man auf hinreichend verlässliche Daten angewiesen, aber diese Daten sind weiterhin umstritten, unvollständig oder fehlen teils sogar gänzlich.
Das andere wichtige Element zur Bewertung der Verhältnismässigkeit, das aus meiner Sicht nicht angemessen berücksichtigt wird, ist der Zeitdruck: Falls in einer Pandemie zu lange mit der Umsetzung einer wie auch immer gearteten Vorgehensweise abgewartet wird, kann die Ausbreitungsdynamik des Virus einen kaum mehr reversiblen Kipppunkt erreichen. Dadurch wird das zur Beschlussfassung verfügbare Zeitfenster massiv verengt, sodass es nahezu unmöglich ist, vorab für alle möglichen Vorgehensweisen eine abschliessende Einschätzung sämtlicher Konsequenzen vorzunehmen.
In Deutschland oder auch der Schweiz hatten sich die Regierungen für Vorgehensweisen mit Zwangsmassnahmen entschieden, gleichwohl ist in beiden Ländern bislang je etwas mehr als ein Promille der Bevölkerung an oder mit Covid-19 verstorben. De facto kann heute aber niemand verlässlich belegen, dass mit einer anderen Vorgehensweise oder derselben, stattdessen auf Eigenverantwortung setzenden Vorgehensweise weniger Menschen gestorben wären bzw. weniger Leid verursacht worden wäre (und vice versa).
Gleichsam weiss niemand mit hinreichender Verlässlichkeit, welche globalen Kollateralschäden kausal auf die ergriffene Vorgehensweise mit Zwangsmassnahmen zurückzuführen sind und wie diese Kollateralschäden bei anderen Vorgehensweisen oder derselben, stattdessen auf Eigenverantwortung setzenden Vorgehensweise ausgefallen wären. Wir haben zwar eine Vielzahl von Indizien, die in alle möglichen Richtungen weisen und über die sich zum Teil gewisse Konsense herausbildeten, aber so gut wie keine soliden Beweise und mithin auch fast nirgends auf der Sachebene eine Einstimmigkeit.
Was die Verhältnismässigkeit anbelangt, fischen wir somit auch nach eineinhalb Jahren Pandemie noch immer weitestgehend im Trüben. Wir können keine schlüssige und unangreifbare Aussage darüber machen, ob wir durch die bisherige Vorgehensweise überhaupt nur in die Nähe des moralisch Gebotenen bzw. der optimalen Verhältnismässigkeit gekommen sind. Wenn eine solche Aussage aber bereits für die bisherige Vorgehensweise trotz vorhandener Ist-Daten nicht mal retrospektiv möglich ist, dann gilt, was ich schon weiter oben theoretisch ausgeführt und begründet habe: Die Verhältnismässigkeit ist für keine einzige Vorgehensweise bestimmbar. Nicht für die Vergangenheit und damit auch nicht für die Zukunft. Nicht für tatsächlich ergriffene und damit auch nicht für nur hypothetische Vorgehensweisen.
Zusammenfassung
Wir müssen uns mit der bitteren Erkenntnis abfinden, dass die Pandemie nicht gezielt mit einer optimalen Verhältnismässigkeit bekämpft werden kann, weil sich diese optimale Verhältnismässigkeit ihrem Wesen nach einer sowohl theoretischen als auch praktischen Bestimmbarkeit entzieht. Das Einzige, was uns vor diesem Hintergrund noch bleibt, ist das Anstreben einer möglichst verhältnismässigen Vorgehensweise - nach gutem Treu und Glauben sowie nach bestem Wissen und Gewissen. Pandemiebewältigung ist damit nicht zuletzt auch ein kontinuierlicher Lernprozess, mit dem notwendig einiges an «try and error» einhergeht. Mehr können und dürfen wir nicht erwarten.
Ich teile Ihre Meinung, dass für dieses Streben nach einer möglichst verhältnismässigen Vorgehensweise ein unvoreingenommener, umfassender und interdisziplinärer Gesamtblick nötig ist und man das Feld nicht einfach nur der Virologie und Epidemiologie überlassen darf. Wenn man aber vor einer dermassen komplexen Aufgabe steht und innert nützlicher Frist Beschlüsse von enormer Tragweite vorbereiten und/oder fassen muss, wird man sich vernünftigerweise tendenziell an jener Auffassung orientieren bzw. jene Vorgehensweise wählen, die im interdisziplinären Gesamtblick von einer Mehrheit favorisiert wird. Es liegt in der Natur der Sache, dass dabei niemals Einstimmigkeit herstellbar ist, deswegen muss man sich mit dem bestmöglichen Konsens begnügen.
Mein persönlicher Eindruck ist, dass zumindest der Schweizer Bundesrat (für die Regierungen anderer Länder möchte ich mir keine Beurteilung anmassen) exakt dies getan hat. Er orientierte sich nicht ausschliesslich, aber grossmehrheitlich an den Empfehlungen seiner interdisziplinären Task Force. Ich würde «meiner» Regierung deshalb gleichwohl keinen Blankoscheck für die Zukunft ausstellen wollen oder behaupten, die Pandemie sei in der Vergangenheit hierzulande (optimal) verhältnismässig bewältigt worden. Nach meiner Wahrnehmung wurde aber mit hehren Absichten das Beste im Sinne einer wohlerwogenen Güterabwägung versucht, um die Pandemie möglichst verhältnismässig zu bekämpfen. Grundrechte wurden nicht aus Willkür oder Machtgeilheit eingeschränkt, sondern weil man überzeugt war, nur dadurch die Pandemie wirksam einzudämmen.
Zu berücksichtigen wäre allenfalls noch, dass sowohl in Deutschland als auch der Schweiz gemäss zahlreicher repräsentativer Umfragen stets eine Zweidrittel- bis Dreiviertelmehrheit der Bevölkerungen die von den Regierungen gewählten Vorgehensweisen und mithin auch die temporären Einschränkungen der Grundrechte unterstützten.
Die Pointe: Hätten die Regierungen von Deutschland und der Schweiz schon von Beginn weg auf Eigenverantwortung statt auf Zwangsmassnahmen gesetzt, wären heute vermutlich einfach nur die beiden Seiten des Diskurses vertauscht; das eine Lager würde beanstanden (ohne dies beweisen zu können), mit Zwangsmassnahmen wäre weniger Leid entstanden, das andere Lager würde den bisherigen Weg verteidigen (ebenfalls ohne dies beweisen zu können). Eine Pandemie ohne kaum überbrückbare Meinungsverschiedenheiten ist allem Anschein nach so oder so ein Ding der Unmöglichkeit: Bei uns wird gegen die Massnahmen demonstriert, in Brasilien gegen die Absenz von Massnahmen.
Aussöhnung
Wenn ich Ihren Text richtig lese, vertreten Sie eine Position, wonach (mehr) Eigenverantwortung der verhältnismässigere, zu weniger Leid führende Weg gewesen wäre und auch inskünftig sein würde. Ich respektiere diese nicht beweisbare Position im Wissen darum, dass ich meine eigene Position, wonach der bisher eingeschlagene Weg hinreichend verhältnismässig war, ja schliesslich auch nicht beweisen kann.
Aber mit diesen Positionsbezügen ist für mein Empfinden kein einziger Schritt zur Aussöhnung getan, selbst wenn wir gegenseitig noch so viel Respekt und Verständnis für die jeweils andere Position aufbringen. Denn gerade über unsere Positionsbezüge machen wir doch im Grunde nichts anderes als zu sagen: «Du hast unrecht, Deine Vorgehensweise ist unverhältnismässig; ich aber habe recht, meine Vorgehensweise ist verhältnismässig.» Damit kommen wir in der Debatte nicht weiter, sondern bleiben bloss in unseren je selbstgewählten Schützengräben sitzen und versuchen verzweifelt, möglichst gute Argumente für unsere jeweilige Position zu finden, obwohl jedes auch noch so gute Argument unverzüglich widerlegt oder relativiert werden kann. Auf der Sachebene gibt es keine Sieger und wird es wohl auch nie geben.
Was uns eint, ist der Wunsche nach einer Überwindung der Pandemie mit möglichst geringem Leid und als Folge davon die baldige Rückkehr zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, damit wir diesen gemäss Ihren Vorschlägen im Kapitel 4.10 veredeln können (nun ja, das Letztere eint uns leider nicht alle, aber ich bleibe auch da zuversichtlich, dass Vernunft und Moral sich durchsetzen werden).
Die Frage ist demnach, wie wir als Gesellschaft mit dieser vermutlich unüberwindbaren Uneinigkeit auf eine möglichst gute Art und Weise umgehen sollen, damit wir aus unseren Schützengräben kriechen und dem Gegenüber die Hand reichen können. Ich habe auf diese Frage leider bislang keine für mich befriedigende Antwort gefunden – vielleicht abgesehen davon, dass ich mir vorstelle, die Regierungen könnten hier einen wertvollen Beitrag leisten, indem sie allgemein verständlich u.a. ihre Entscheidungsprozesse, Vorgehensweise und Kommunikation erläutern und begründen, die Schwierigkeiten und Herausforderungen aufzeigen, mit denen sie sich konfrontiert sahen und sehen, ihren Widerwillen gegenüber den verhängten, aber als notwendig erachteten Grundrechtseinschränkungen verdeutlichen, und nicht zuletzt auch zur Versöhnung aufrufen.
Von all jenen, die die bisherige Vorgehensweise kritisieren, würde ich mir wünschen, dass auch sie einsehen und einräumen, wie eine Einigung auf der Sachebene kaum oder gar nicht möglich ist. Infolgedessen sollten wir m.E. alle in guter demokratischer Tradition die bisherige Vorgehensweise akzeptieren und nach Kräften mithelfen, ihr zum Erfolg zu verhelfen. Einer Vorgehensweise nota bene, die offenbar noch immer von einer substanziellen Bevölkerungsmehrheit mitgetragen wird. Es ist nicht zweckdienlich, diese Vorgehensweise zu unterminieren, bloss weil man nicht damit einverstanden ist.
Das soll nun aber ganz entschieden nicht heissen, dass man die bisherige Vorgehensweise gut finden muss und schon gar nicht, dass die Kritik zu verstummen hat. Ganz im Gegenteil: Wir alle müssen weiterhin versuchen, uns der optimalen Verhältnismässigkeit anzunähern. Kein vernünftiges, stichhaltiges Argument darf ausser Acht gelassen werden, um dieses Ziel zu erreichen. Und alle, die vernünftig und stichhaltig argumentieren, müssen unbedingt Gehör finden, unvoreingenommen und ohne Feindseligkeiten.
Für die Zukunft würde ich mir ferner wünschen, dass einerseits die Diskussionen der zur Pandemiebewältigung einberufenen, interdisziplinären Konsultativgremien (Task Forces o.ä.) öffentlich zugänglich sind und demnach auch vollständig protokolliert und die Protokolle publiziert werden. Andererseits wäre nach meinem Dafürhalten seitens der Exekutiven ein besseres Bewusstsein darüber angezeigt, dass eine Krise wie diese Pandemie zwar «top-down» gesteuert wird, aber nur «bottom-up» bewältigt werden kann. Mit diesem Bewusstsein sollte im Verlaufe der Krise jederzeit offen und transparent kommuniziert werden.
Letztlich würde ich mir noch wünschen, dass wir die vergangenen Konflikte abhaken, das Kriegsbeil begraben, und nun möglichst viele Daten im Hinblick auf zukünftige Pandemien sammeln, damit wir diese dereinst hoffentlich mit einer möglichst guten Verhältnismässigkeit und möglichst ohne Zwangsmassnahmen werden bewältigen können. Zudem könnten wir meines Erachtens ab sofort gemäss Ihren Vorschlägen im Kapitel 4 vorgehen. Inzwischen haben alle Menschen in Deutschland und der Schweiz ein Impfangebot erhalten und ungefähr je die Hälfte der Bevölkerung nahm es wahr. Insbesondere aufgrund der dadurch deutlich entspannteren Risikolage sind nun die Voraussetzungen für Eigenverantwortung bzw. Ihre postulierten Alternativen gegeben.
Insofern könnte man damit schliessen, dass Impfungen zwar nicht das Ende der Pandemie sind, aber zumindest mal das Ende der Pandemie mit Zwangsmassnahmen sein sollten.
Es dauerte zu meiner grossen Überraschung und nicht minder beträchtlichen Freude nur ein paar wenige Stunden, bis mir Herr Dr. Ellis Huber sehr wertschätzend und umfassend antwortete.
Lieber Herr [Chatty Avocado],
ich danke Ihnen herzlich für diese umfassende und weise Rückmeldung, die ich mit Gewinn und Nachdenklichkeit lese. Ich sehe dabei auch, dass nach meiner Kenntnis die schweizerische Bundesregierung deutlich zurückhaltender und ausgewogener handelte und handelt als die bundesdeutsche Politik. Das dürfte mit der demokratischen Grunderfahrung des Gemeinwesens in der Schweiz zusammenhängen. Ich will Ihnen den kulturellen und gesellschaftpolitischen Kontext anhand einiger Auszüge aus einer aktuellen Veröffentlichung darlegen. Es geht letztlich um die Verteidigung demokratischer Kulturen gegen totalitär oder autoritative Machtansprüche.
Ich grüße herzlich in die Schweiz. Ich bin an der Grenze in Waldshut geboren und die Hälfte meiner Familie besitzt die Schweizer Staatsbürgerschaft.
Verhältnismäßigkeit will auch zum Ausdruck bringen, dass alle Gesundheitsbedrohungen gesellschaftlich gesehen und angegangen werden. Die weltweit gefährlichsten Infektionskrankheiten sind immer noch die Tuberkulose und HIV/AIDS. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des RKI erkranken jährlich über 10 Millionen Menschen an einer Tuberkulose, etwa 1,5 Millionen Menschen sterben daran. Die Zahl der Toten nimmt jetzt wegen der Fixierung auf die Corona Pandemie deutlich zu. Die Vereinten Nationen melden überdies, dass über 800 Millionen Menschen weltweit an Hunger leiden und an den Folgen von Unterernährung sterben pro Jahr etwa 30–40 Millionen Menschen. Kinder unter fünf Jahren sind besonders betroffen.
Alle anderen Infektionskrankheiten sind im Vergleich zu Corona tatsächlich eine weitaus größere Gefahr. Denn bis heute sind in diesem und im letzten Jahr deutlich über 20 Millionen Menschen an anderen Infektionskrankheiten verstorben. Das Corona Virus hat demgegenüber weniger als 5 Millionen Todesfälle verursacht. Das ist erschreckend viel, aber eben nicht die bedeutsamste Todesursache. Auch in Deutschland sterben gegenwärtig an anderen infektiösen und parasitären Krankheiten im Zeitraum von anderthalb Jahren an die 30.000 Personen. Bakterielle oder virale Lungenendzündungen nehmen 45.000 Menschen das Leben. Und die Sepsis, populär als Blutvergiftung bezeichnet, hat gleichzeitig etwa 120.000 Todesfälle verursacht. Seit Beginn der Corona Pandemie sind auch in Deutschland mehr Menschen an anderen Infektionskrankheiten zu Tode gekommen. Solche Vergleiche machen die 92.000 und mehr Todesfälle durch und mit Corona nicht weniger schrecklich. Die Einordnung der Covid-19 Krankheiten in das allgemeine Sterben kann aber helfen, das Problem als bewältigbar zu erkennen und die irrationalen Ängste abzubauen.
Das Corona Virus hat unsere Welt verändert. Sars-CoV-2 und die Covid-19-Krankheiten stellen uns vor ungeahnte Probleme, unsere Sicherheiten und Gewohnheiten werden in Frage und unsere Werte und Grundüberzeugungen auf die Probe gestellt. Der Kontrollverlust durch die Corona-Pandemie produziert individuelle wie kollektive Gefühlsausbrüche: Angst, Aggression und trotzige Wut, auch Einsamkeit, Verlorenheit, Hilflosigkeit oder Verzweiflung, Depressionen und Schmerzen. Wir erleben aber auch neue Gemeinschaftlichkeit: Liebe, Freude, Solidarität, Dankbarkeit, Mitmenschlichkeit und soziales Miteinander. Unsere Nachdenklichkeit hinterfragt vieles: wie können wir Beruf und Familie besser vereinbaren, sinnlose Reisen und Meetings vermeiden und Urlaub in der Nähe machen? Wie schützen wir die Ressourcen von Natur, Umwelt, Körper, Geist und Seele und wie setzen wir neue Prioritäten gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen? Corona hat die Fortschrittsideologie von schneller, höher und profitabler als schädlich entlarvt und Wertschätzung, soziales Miteinander und Solidarität als Werte neu bewusst gemacht.
„Die Welt danach wird eine andere sein“, sagte Bundespräsident Frank Walter Steinmeier schon in seiner Osterbotschaft zu Beginn der Pandemie: „Wir wollen keine ängstliche, keine misstrauische Gesellschaft werden. Sondern wir können eine Gesellschaft sein mit mehr Vertrauen, mit mehr Rücksicht und mehr Zuversicht.“ Die Corona-Pandemie sei „eine Prüfung unserer Menschlichkeit“, die das Schlechteste und das Beste in den Menschen hervorrufe. Es geht psychodynamisch und soziokulturell also um eine neue Kultur der Nachhaltigkeit und Mitmenschlichkeit: um gesundheitsförderliche und gesunde Gesellschaften. Sterben ist dabei ein Teil des Lebens und der Tod gehört zum Leben.
Etwa 58 Millionen Menschen sterben jedes Jahr auf unserer Erde. Das sind jeden Tag 160.000 Todesfälle. Die Summe aller Infektionskrankheiten bringen an jedem Tag etwa 36.000 Menschen den Tod. Die Corona-Pandemie verursachte im Jahr 2020 also weniger als 5% der Todesfälle insgesamt und sogar weniger als 20% des gesamten Sterbens durch andere Infektionskrankheiten, gegen die es durchaus wirksame Medikamente und Impfungen gibt. Wir leben mit vielen Infektionsgefahren, kennen die Folgen von Masern, Kinderlähmung, Röteln, Mumps, Gürtelrose, Keuchhusten, Ebola oder den verschiedenen Influenzaviren. Pandemien sind immer Krankheiten durch Krankheitserreger und gleichzeitig Krankheiten der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie produzieren kollektive Ängste, verschärfen soziale Spannungen und decken Gefahren auf. Der verdrängte Tod wird plötzlich sichtbar und kollektiv unbewusste Energien kommen an die Oberfläche. Das Coronavirus offenbart den Zustand von Mitmenschlichkeit in den betroffenen Gesellschaften.
Wir müssen uns nun mit der Psychodynamik und den sozialen Folgewirkungen des Erlebten beschäftigen. Es ist nicht neu, dass eine einzelne Krankheit alles überlagert und das kollektive Erleben formiert. Das eröffnet auch neue Chancen für eine bessere Welt und eine gesellschaftliche Wende, die Nachhaltigkeit und Menschlichkeit über die Interessen von Geld und Profit stellt, die Kooperation höher bewertet als Rivalität und das Gemeinwohl wichtiger nimmt als einen rücksichtslosen Egoismus mit dem Streben nach Macht und Geld.
Schon immer haben sich Menschen schreckliche Ereignisse durch einfache Wahrheiten erklärt. Unerklärliche Notlagen machen starke Führer und Verschwörungstheorien gleichermaßen verführerisch. Als Pest und Cholera wüteten, war das so oder als die Spanische Grippe und die Weltwirtschaftskrise Tod und Elend produzierten. Vogelgrippe, Schweinegrippe, Aids, Ebola oder jetzt Corona brachten bereits diffuse Ängste mit sich. In Deutschland nehmen schon seit Jahren psychosoziale und psychosomatische Krankheiten zu: Ängste, Depressionen, Burnout, Hochdruck, Rückenleiden oder Schmerzsyndrome. Die vorherrschenden Krankheiten, die gegenwärtig das Gesundheitswesen beschäftigen, sind Symptome, die vermehrt einen Verlust an sozialer Kohärenz oder kultureller Geborgenheit aufzeigen. Die Krankheiten des sozialen Bindegewebes und der verlorenen Mitmenschlichkeit sind zur zentralen Herausforderung für Medizin und Psychotherapie geworden.
Angst und Schrecken oder Aufbruch zu einer neuen Gesundheitskultur
Das Coronavirus gibt nun den längst vorhandenen Ängsten der Menschen einen Namen und produziert gleichzeitig hysterisch aufgeheizte soziale Konflikte. Die politische Führung und die öffentlichen Medien verstärken mit ihrer Kommunikation die Psychodynamik von Angst und Panik. Die Realität ist aber ein allgemeiner Kontrollverlust, der die Mächtigen ebenso trifft wie die kleinen Leute. Die bisherigen Lebensgewohnheiten sind in Frage gestellt. Wissenschaft und Forschung garantieren keine Rettung, obwohl die schnelle Entwicklung von Impfstoffen eine große Leistung darstellt. Wir alle haben die gegenwärtige Situation mit den Gefahren für unser Leben nicht im Griff. Unsere Welt ist komplex und unberechenbar geworden und in dieser Situation gerät uns alles durcheinander. Angst und Panik gehen mit Spaltungsenergien, Negativität und Hilflosigkeit einher. Die tägliche Datenflut liefert den Menschen keine sichere Orientierung. Die öffentliche Behandlung der Corona Pandemie ist Teil einer gesellschaftlichen Dynamik, die zwischen realer Gefahr und irrationalen Gefühlen hin und her taumelt und eine tiefgreifende psychosoziale Verunsicherung bewirkt.
„In Krisen bekommst du beides, Gutes und Schlechtes. Menschen zeigen sich, wie sie wirklich sind. Einige verausgaben sich im Dienst an den Bedürftigen, während andere sich an der Not von Menschen bereichern“, analysiert Papst Franziskus in seinem Buch „Wage zu träumen“. Er fordert eine beherzte Neuorientierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft und den Mut zur Veränderung. Das nun stellt die Gesundheitswirtschaft vor besondere Herausforderungen. Sie müsste vorangehen auf dem Weg zu einer gesünderen Welt, die mit den natürlichen Ressourcen achtsam umgeht und die Menschen würdig leben lässt.
Die Corona-Krise fordert alle Akteure im Gesundheitswesen auf, ihre gesellschaftlichen Aufgaben neu zu sehen und die Gesundheitswirtschaft aus den Fesseln der Kapitalinteressen zu befreien. Die Ökonomisierung der Medizin hat pflegerische, ärztliche und therapeutische Tätigkeiten schon lange vor Corona einer monetären Vorteilslogik unterworfen. Das Handeln der Helfer orientiert sich bewusst wie unbewusst an den Erlösen durch das vorhandene System. Die Gewinnvorgaben für das Krankenhaus oder das Gesundheitsunternehmen verändern die Haltung zum Patienten und hilfsbedürftigen Menschen. Gemacht wird, was sich rechnet und nicht, was wirklich notwendig ist. Das therapeutische Können wird systemisch an seiner profitablen Verwertbarkeit ausgerichtet und es kommt zu einer inneren Eroberung der Beziehungswelt durch die kalte Ökonomie. Welche Heilkultur kann uns künftig vor dieser Destruktion der Beziehungen schützen und bei vergleichbaren Pandemien und Gesundheitskatastrophen dazu beitragen, dass die Werte der Menschlichkeit das helfende Denken und Handeln bestimmen?
Das Gesundheitswesen als profitgesteuerter Wirtschaftsbetrieb zerstört im Kern die soziale Funktion der Gesundheitsberufe. „Wir Europäer müssen unsere Werte, die Achtung vor dem Leben, dem Planeten, der Gesundheit verteidigen“, fordert Ilaria Capua, die bereits zitierte Virologin aus Italien. Wir sollten nicht das Virus jagen, sondern die Gesundheit der Bevölkerung als unser Ziel erkennen und die Menschen anleiten, ihre Gesundheitskompetenzen zu entwickeln und die Corona-Risiken selbst zu steuern. Es geht also um eine neue Gesundheitskultur für Mensch und Gesellschaft. Die Ökonomisierung der Medizin folgt einem mechanistischen Menschenbild und die Politik einer technokratischen Verwaltungsdoktrin. Beides verkennt die Realitäten von Menschen und Gesellschaft. Märkte, die der Gesundheit dienen sollen, brauchen eine reflektierte und bewusste Orientierung am Gemeinwohl.
Die öffentliche Auseinandersetzung zu Corona bewirkt eine Infantilisierung der Bevölkerung und ebenso ein trotziges Aufbegehren gegen autoritative Bevormundung, also eine kommunikative Kollusion: ein unreflektiertes, unbewusstes und von den Akteuren oben wie unten selbst inszeniertes „Arrangement“. Wir haben es mit einer kollektiv neurotischen Verhaltensweise zur Bewältigung des Kontrollverlustes zu tun. Die Mächtigen spielen Herrschaft, die alles im Griff hat, durchgreift und dem Volk nicht zutraut, vernünftig zu handeln. Das Volk unten geht in eine kindliche Abhängigkeit, schimpft, demonstriert und ignoriert die Regeln oder unterwirft sich folgsam, schuldbewusst und auf Erlösung hoffend noch den härtesten Maßnahmen. Die Leute spielen also das Warten auf den Retter oder die Wut auf den unfähigen Politiker. Die Politiker gerieren sich als Macher und mächtige Fürsorger für das arme Volk. Macht-Attitüden verbinden sich mit Abhängigkeitswünschen und Widerstandsgefühlen. Das bedingt eine Reaktion von Folgsamkeit oder Aufmüpfigkeit. Diese Kollusion in der Bewältigung von Ohnmacht und Kontrollverlust zwischen oben und unten im Staat zerrütten das soziale Leben. Die Symptome können als eine soziale Krankheit verstanden werden.
Renommierte und kompetente Wissenschaftler kritisierten von Anfang an die politische Risikokommunikation, die irrationale Ängste und Unsicherheiten produziert und funktionalisiert. „NoCovid“ heißt eine Initiative von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die interdisziplinäre Gruppe fordert eine Strategie „Bottom-up statt Top-down“, also die aktive und informierte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in ihren jeweiligen Lebenswelten. Die NoCovid-Gruppe formuliert mit ihrer Strategie einen „atmenden Plan“, fordert eine lernende Graswurzelbewegung und propagiert im Umgang mit der Pandemie eine radikale Demokratisierung des Gesundheitswesens. Das ist lebensnah. Die Fähigkeit, Pandemien effizient und effektiv zu bewältigen muss jetzt als gesundheitskompetente Leistung der Bürgerinnen und Bürger aktiv entwickelt werden. Das beinhaltet eine Kultur der Selbstorganisation auf der lokalen Ebene, in den Lebenswelten wie Schulen, Gemeinden, Betrieben oder Pflegeheimen. Die Devise lautet: Mehr kommunale Demokratie wagen und die bürgerschaftliche Selbstorganisation ausbauen.
Hilfe zur Selbstorganisation als heilsame Strategie
Machtpolitische Haudegen mit selbstgerechtem Führungsanspruch setzen gegenwärtig auf Zentralismus, auf Einheitsverordnungen und Verhaltenspflichten für Alle. Zentrale Regeln bringen aber nichts. Die kommunale Selbstverwaltung auszubauen und die lokale Kultur des bürgerschaftlichen Selbstmanagements, also die Demokratie zu stärken ist nachweislich wirksamer, effektiver und effizienter.
Die allgemeinen Regeln zum Management einer Pandemie von Krankheitserregern, die mit der Atemluft und Aerosolen übertragen werden, sind eindeutig und bei Influenza Viren wie bei Corona Viren gleich:
Möglichst wenig Infektionen durch individuelle Kontaktvermeidung mit möglicherweise infizierten Personen und situativ flexible Verhaltensweisen von Abstand, Hygiene, Masken, Corona-Warn-Apps oder Lüften (AHA+A+L-Regeln).
Schnelle Erkennung von auftretenden Infektionen durch frei verfügbare Messsysteme, Nachweismethoden und vor allem auch aktive Selbstwahrnehmung der Infektionsereignisse durch die Menschen in ihren sozialen Gruppen selbst.
Aktive Unterbrechung der Infektionsketten durch sofortige und möglichst kurze Quarantäne der betroffenen und infizierten Kontaktpersonen.
Damit die Menschen in ihren Lebenswelten das für sie bestehende Risiko selbst steuern können benötigen sie entsprechende Hilfe und Unterstützung. Sie brauchen Mess- und Feststellungsverfahren von Infektionen und Infektionsketten und technische Hilfen zur Selbstorganisation der Infektionsbekämpfung. Zielgerichtete subsidiäre Aktivitäten sind dabei wichtiger als zentrale Vorschriften. Pandemiebewältigung können Gesundheitsämter und staatliche Organe nicht für die Menschen, sondern nur mit ihnen zusammen sicherstellen.
Ich will die Aufgabe einmal konkret darlegen und aufzeigen, worum es geht: Die Situation mit einer Inzidenz von beispielsweise 140 wird bisher politisch als Katastrophe gedeutet, die radikale Lockdowns und Ausgangssperren notwendig mache. Diese Inzidenz bedeutet, dass in einer Stadt mit 10.000 Einwohnern täglich zwei und in einem Dorf mit 1.400 Einwohnern nur zwei Infektion pro Woche gemessen werden. Für diese zwei betroffenen Personen müssen Hilfe und Unterstützung bereitgestellt werden. Leben sie in einem Pflegeheim, nutzen Ausgangssperren für 9.998 Einwohner nichts. Ist ein Unternehmen betroffen oder ein Kindergarten ist es angemessen, die Verbreitung aus diesen kleinen Lebenswelten zu stoppen. Bei Infektionen von Leuten mit Migrationshintergrund sind wiederum andere Hilfen notwendig. Viele verstehen nicht, was los ist und brauchen zielgruppenspezifischen Informationen, damit sie sich selbst schützen können. Soziale Ungleichheiten werden durch Ausgangssperren verstärkt und Menschen mit sozial weniger entlohnten Tätigkeiten sind von Covid-19 mehr betroffen. Das lokale Risikomanagement braucht also individuelle, zielorientierte, an den betroffenen Menschen und ihren Lebenswelten ausgerichtete Maßnahmen. Die Menschen und die Einrichtungen müssen selbst handeln können: Testen, Nachverfolgen, Quarantänen organisieren, Ausbreitung eindämmen und notwendige Behandlungen organisieren.
Eine Inzidenz von 20, die gegenwärtig besteht, bedeutet für große Städte wie Jena, Recklinghausen, Trier, Salzgitter, Moers, Siegen, Hildesheim, Gütersloh, Kaiserslautern, Cottbus oder Hanau mit ca. 100.000 Einwohnern täglich etwa drei positive PCR Testungen. Diese drei Menschen infizieren, wenn sie selbst überhaupt infektiös sind, nicht mehr als drei weitere Personen. Es wäre also kein Grund für Angst und Panik, wenn die drei positiv getesteten Menschen Unterstützung erhalten und mit ihnen zusammen die Infektionsketten schnellstmöglich gestoppt werden. Das benötigt dann bei Heimbewohnern, Angestellten in einer Behörde, Mitarbeiterinnen im Einzelhandel oder partywütigen Geldmanagern jeweils individuell und spezifisch ein unterschiedliches Vorgehen: Es ist machbar, überschaubar und wirksam. Angst und Rohrstockpolitik oder Bürokratie und Gesundheitspolizei verhindern die wirksame Pandemiebekämpfung. Eine bessere Strategie wäre die couragierte bürgerschaftliche Selbstorganisation!
Individuelle und soziale Immunsysteme oder resiliente Gesellschaften
Der soziale Organismus mit seinen Bürgerinnen und Bürgern funktioniert besser, wenn er wie ein lebendiger Zellorganismus oder das menschliche Gehirn gesteuert wird. Unser Körper hat keine „Kanzlerin“ oder einzelne Herrscher, die mit Macht und Befehl die Funktionen der einzelnen Zellen und Organe beherrschen. „Das Gehirn ist vor allem ein Vermittlungsorgan für die Beziehungen des Organismus zur Umwelt und für unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Diese Interaktionen verändern das Gehirn fortlaufend und machen es zu einem biographisch, sozial und kulturell geprägten Organ“, erläutert der Psychosomatiker und Neurologe Thomas Fuchs die Führungskultur des Leibes. Das menschliche Gehirn dient den einzelnen Zellen, es regiert sie nicht von oben herab. Das Gehirn als Führungsorgan koordiniert, orientiert und dient den Zellen und Organen, damit sie ihre Aufgabe selbständig in Verantwortung für das gemeinsame Ganze gut erfüllen können. Lebendige Organismen verbinden dezentrale Selbststeuerung und Autonomie mit zentraler Unterstützung für ein gelingendes Miteinander aller beteiligten Akteure.
Die Menschen müssen in ihren Lebenswelten unterstützt werden, um das Corona-Risiko selbst managen zu können. Messsysteme und technische Hilfen zur Selbstorganisation sind ebenso wichtig wie soziales Engagement und kommunikative Kompetenzen. Zielgerichtete subsidiäre Aktivitäten sind zur Kontaktvermeidung und zur Unterbrechung von Infektionsketten wichtiger als zentrale Regeln. Viele Experten plädierten für eine breite gesellschaftliche und wissenschaftliche Debatte und beklagten die einseitige Positionierung der Politik auf das Virus und die Expertise von Virologen. „Bereits bestehende globale Herausforderungen wie insbesondere der Klima- und Artenschutz verschwinden mit der Coronavirus-Krise nicht. Politische Maßnahmen sollten sich auf nationaler wie internationaler Ebene an den Prinzipen von ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit, Zukunftsverträglichkeit und Resilienzgewinnung orientieren“ meint die Deutsche Akademie der Wissenschaften, die Leopoldina in einer Stellungnahme.
Die Strategie der Pandemiebewältigung folgt in Europa vornehmlich einem autoritativen Politik- und Machtverständnis. Der individuelle und gesellschaftliche Kontrollverlust entwickelt überall eine eigene kollektive Psychodynamik mit hohem psychosozialem Stress. Die Massenpsychologie von Corona-Angst und Corona-Leugnung zerreißt das soziale Leben, und eine politische Führung, die nicht dialogisch integriert und achtsam kommuniziert, verstärkt die hysterischen und aggressiven Reaktionen: Wut und Hass ebenso wie Angst und Depressivität oder Misstrauen und Aggressivität. Das alles macht für Infektionen und schwere Verläufe zugleich anfälliger und verletzlicher.
Wir können Glück haben und aus der Corona Krise mit einem Neuen Bewusstsein und einer neuen Beziehungskultur herauskommen. Das Virus spiegelt die Gefahren einer „kontaktreichen Beziehungslosigkeit“ und einer rivalisierenden wie konkurrierenden Konsumwelt von rücksichtslosen Individuen, die das Geld zum einzigen Maßstab und Wert erhoben haben. Corona ist ein Menetekel, eine unheilverkündende Warnung vor einem falschen Weg in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Psychosozialer Stress, Ängste, Einsamkeit oder Ausgrenzung schwächen das individuelle und erst recht auch das soziale Immunsystem. Die junge Wissenschaft der Psychoneuroimmunologie belegt, dass Lebenszufriedenheit, möglichst viel positive Gefühle, gute Beziehungen, das Gefühl von Durchblick, Selbstbestimmung, Lebenssinn und Geborgenheit in der Gemeinschaft das Immunsystem stärkt und unsere Abwehrkraft gegen Viren oder Bakterien verbessert. In der Krise entscheidet sich, ob die Solidarität nach innen und außen die Oberhand gewinnt oder Egoismus und Selbstgerechtigkeit obsiegen.
Die Corona-Krise zeigt die hohe Anfälligkeit global vernetzter Systeme und unsere Abhängigkeit von anderen Menschen. Jetzt wird sich zeigen, ob unsere offene Gesellschaft ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Gemeinwohl und Individualismus hinbekommt. Es geht um ein soziales Bindegewebe, das gesundet und gesundheitsförderlich ausgestaltet wird. Individuelle Gesundheitskompetenz, gesunde Sozialentwicklung und ein neues menschliches Miteinander, also ein heilsames Milieu und achtsame Menschen in solidarischen Gemeinschaften sind die Stichworte für ein Gleichgewicht zwischen Viren, Menschen und ihrem Gemeinwesen. Und es braucht auch ein gesundes Gleichgewicht zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Staat. Leben und Wirtschaften im Einklang mit der Natur kommen hinzu. Nicht Wachstum, Nachhaltigkeit ist umzusetzen und Werte, nicht das Geld sind der Maßstab.
Auf diesen nach meinem Dafürhalten wirklich grossartigen Text antwortete ich Herrn Huber dann noch das Folgende.
Lieber Herr Huber
Ich habe Ihre Antwort, nochmals ganz herzlichen Dank dafür, nun mehrfach gelesen.
Im ersten Teil, dem einordnenden Vergleich von Covid-19 mit anderen Todesursachen, war zunächst ein wenig Überwindung erforderlich, worauf ich etwas weiter unten noch kurz eingehen möchte.
Zum Rest des Textes will ich Ihnen aber ein bedingungsloses und grosses Kompliment aussprechen; da hat jemand ganz offensichtlich die Zeichen der Zeit erkannt, verstanden und die sich daraus vernünftigerweise ergebenen Schlussfolgerungen gezogen. Ich habe Ihre Antwort bereits auf meinem Blog publiziert und hoffe fest, dass dies Ihr Einverständnis findet.
Hier nun noch der kurze Exkurs:
Bislang hatten mich Vergleiche von Covid-19 mit anderen Todesursachen stets einigermassen heftig gestört, weil ich darin in erster Linie eine Verharmlosung sah. Ich halte diese Vergleiche insbesondere aus folgenden Gründen für eher gefährlich:
Die tatsächlichen Covid-19-Todesfallzahlen sind vermutlich, wie die WHO vor einiger Zeit feststellte, um Faktoren höher als die offiziell ausgewiesenen.
Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass noch deutlich mehr Menschen Covid-19 zum Opfer gefallen wären, hätten die Staaten keine Massnahmen ergriffen.
Wir sollten nicht vergessen, dass viele Todesfälle an und mit Covid-19 gerade in Alters- und Pflegeheimen wohl hätten verhindert werden können.
Wenn solche Vergleiche gewissen Menschen helfen, ihre Ängste gegenüber der Pandemie angemessen zu kalibrieren, gehen sie für mich in Ordnung. Wenn daraus aber abgeleitet wird, man hätte doch besser einfach mal eben kurz durchseuchen sollen, dann werden die Vergleiche m.E. in einer unzulässigen weil völlig unmoralischen Weise instrumentalisiert. Gerade auch der Satz «der Tod gehört zum Leben» wurde nach meiner Wahrnehmung vielfach von Menschen geäussert, die sich für Durchseuchung stark machten.
Ich denke aber unbesehen dieser Überlegungen, dass solche Vergleiche für eine Argumentation hinsichtlich der Pandemie ohnehin obsolet sind, denn im Grunde genommen spielt es keine Rolle, welchen Anteil die Pandemieopfer an der Gesamtzahl aller Todesfälle haben. Eine Rolle spielt bloss, ob für die Vermeidung der Covid-19-Todesfälle (oder jeder anderen Todesursache) eine verhältnismässige Vorgehensweise gewählt worden ist.
An einem Beispiel: Wenn wir hundert Covid-19-Todesfälle ohne jeden Kollateralschaden verhindern können, dann sollten wir das tun. Wenn der Preis für die Verhinderung von hundert Covid-19-Todesfällen aber in einem Kollateralschaden von zehntausend zusätzlichen Tuberkulose-Opfern besteht, müssten wir zumindest aus einer utilitaristischen Perspektive die hundert Covid-19-Todesfälle wohl in Kauf nehmen, sofern es keinen anderen oder gar den goldenen Mittelweg gibt.
Es kann also meines Erachtens nicht darum gehen, in welchem Verhältnis Covid-19 zu anderen Todesursachen steht, sondern letztlich bloss darum, dass die Verhinderung dieser Todesfälle dem Prinzip der Verhältnismässigkeit im Sinne einer Minimierung der globalen Summe menschlichen Leids gehorchen muss. Diese Verhältnismässigkeit ist aber keine Funktion des prozentualen Anteils von Covid-19 an allen Todesursachen, sondern des moralischen Preises, den die Verhinderung der Covid-19-bedingten Todesfälle fordert.
Oder in aller Kürze: Wir sollten stets darauf bedacht sein, das Eine zu tun und das Andere nicht zu lassen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen von Herzen alles Gute.
Und Herr Huber antwortete zurück:
Lieber Herr [Chatty Avocado],
gerne können Sie meine Antworten verwenden. Es geht mir im Übrigen nicht um einen Vergleich von Todesursachen, sondern um eine kontinuierliche und nachhaltige Bekämpfung aller unnötigen oder vermeidbaren Todesfälle. Auch wenn die Covid-19 Todesfälle um den Faktor 2-3 höher sind, ist das immer noch einzuordnen. In den europäischen Ländern werden die Covid-19 Todesfälle überschätzt. Nach meiner Überzeugung hätten wirksamere Maßnahmen ohne autoritativen Gestus mehr Todesfälle verhindert. Die Todesfälle in Pflegeheimen hätten in diesem Umfang nicht sein müssen, wenn konsequenter die Risikogruppen geschützt worden wären. Die allgemeinen Interventionen für alle Bevölkerungsgruppen haben die wirklichen Risiken verniedlicht und damit zusätzliche Todesfälle produziert. Das haben auch die Ärztinnen und Ärzte aus Bergamo deutlich gemacht (Anlage).
Ich bin nicht für eine Durchseuchung, sondern für eine maximale Infektionsvermeidung und die war auch in Pflegeheimen möglich. Heimbewohner in Einsamkeit sterben zu lassen, war verantwortungslos und unmenschlich. Die vorzeitigen Todesfälle in Pflegeheimen hängen stark mit der Verwahrlosung der menschlichen Beziehungen zusammen und die Mortalität war bereits vor Corona viel zu hoch. Ich kenne genügend Heime, die nicht Kapitalrenditen von 20 Prozent herauspressen und die daher deutlich verminderte Mortalitäten erreichen. Dort gibt es gut qualifizierte, angemessen bezahlte und jahrelang treue Pflegekräfte. Die Beziehungskultur ist entscheidend.
Eine Strategie der Befähigung zum eigenen Handeln ist nachweislich wirksamer als die Strategie von Angst und Panik. Finnland hat ebenso wie Norwegen gezeigt, dass dies möglich ist (Anlage 2).
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