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Relativismus stinkt absolut

Aktualisiert: 9. Dez. 2023

Kürzlich durfte ich bei guten Menschen zu Besuch sein und dabei spannende und angeregte Diskussionen führen. Differenzen gab es fast nur in einem Punkt, dem philosophischen Streit "Universalismus versus Relativismus". Dieser Beitrag hier will den Streit klären und beilegen. Er ist nicht nur, aber vor allem für Dich, lieber Andreas.

Eine Vielzahl teils verzerrter Uhren

Bild: Pixabay.com (geralt)



Zur Einführung

In der Ethik brodelt seit ein paar Jahrtausenden ein Konflikt zwischen zwei Denkschulen. Zankapfel ist die Frage nach der Reichweite oder, anders ausgedrückt, der Allgemeingültigkeit (Universalität) von moralischen Aussagen. Die Frage also, ob es an jedem Ort und zu jeder Zeit falsch war und ist, beispielsweise Kleinkinder zu foltern, oder ob man das je Kontext potenziell auch anders sehen kann. Eine dritte Denkschule ist sogar der Auffassung, Moral sei nichts weiter als subjektive Meinung, die sich irrtümlich-überheblich für ein objektives Faktum hielte. Diese Auffassung spare ich aus, denn wir werden beiläufig noch sehen, dass sie völliger Quatsch ist. Item. Die beiden Denkschulen, die sich um die Reichweite bzw. Universalität moralischer Aussagen zoffen, sind Universalismus und Relativismus:


  • Universalistinnen glauben, dass alle moralischen Aussagen und damit auch alle Werte eine unbegrenzte Reichweite haben. Laut dieser Denkschule ist Moral an keinerlei Bedingungen geknüpft, sie gilt immer und überall und ist, nomen est omen, universal. In einer weiter gefassten Optik unterstellt der Universalismus mithin, dass die Wahrheit einer Aussage konstant ist.

  • Relativisten glauben, dass moralische Aussagen und Werte bloss eine begrenzte Reichweite haben. Laut dieser Denkschule ist Moral stets an Bedingungen wie Zeit, Ort, Kultur etc. geknüpft, sie gilt immer nur in Bezug auf diese Bedingungen und ist, dito, relativ. In einer weiter gefassten Optik unterstellt der Relativismus mithin, dass die Wahrheit einer Aussage variabel ist.


Abgesehen von dieser zentralen Meinungsverschiedenheit über die Reichweite bzw. Allgemeingültigkeit moralischer Aussagen sind sich Universalistinnen und Relativisten wenigstens darin einig, dass Moral einer wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich ist. Für beide sind moralische Aussagen also objektiv binär, d.h. wir können sachlich nachvollziehbar erkennen, ob sie wahr oder falsch sind. Zudem räumen beide Denkschulen ein, dass wir uns in der Beurteilung moralischer Fragen stets täuschen können, d.h. etwas moralisch Wahres als falsch einstufen und umgekehrt. Weil Irren halt nun mal menschlich ist.


Die grosse, hier zu klärende Frage lautet nun: Wer hat denn jetzt Recht, die Universalistinnen oder die Relativisten; gelten moralische Aussagen universal oder nur lokal?



Zur Praxis

Bevor wir uns dieser Frage auf einer theoretisch-abstrakten Ebene annähern, sehen wir uns doch zum Einstieg ein praktisches Beispiel an, um die Sache zu veranschaulichen. Wir verwenden dazu die heute weltweit verbotene Sklaverei, d.h. die Praxis, andere Menschen gegen deren Willen als persönliches Eigentum zu behandeln und mit ihnen zu verfahren, wie man gerade lustig ist. Nun lassen wir beide Denkschulen in den Ring steigen und schauen, was sie über Sklaverei grundsätzlich zu sagen haben:


  • Universalistinnen würden behaupten, Sklaverei sei an und für sich böse und somit falsch, und man könne objektiv zeigen, dass das auf der ganzen Welt so gewesen sei, seit der Mensch von den Bäumen hinabgeklettert war und einen Verstand entwickelt hatte. Anders ausgedrückt: Für den Universalismus ist Sklaverei unabhängig vom Kontext immer und überall falsch.

  • Relativisten aber würden dagegenhalten, so kategorisch können man das nicht sagen, denn es sei ja hinlänglich bekannt, dass Sklaverei schon ab den frühesten Hochkulturen der Menschheit eine gängige, quasi normale Praxis gewesen sei. Anders ausgedrückt: Für den Relativismus kann Sklaverei abhängig von Umständen und Personen mal richtig und mal falsch sein.


Während die Universalistin also eine Verhaltensweise an und für sich moralisch bewertet und sich dabei nicht um Beigemüse wie Epoche oder Weltgegend schert, sind für den Relativisten immer die jeweiligen Rahmenbedingungen von entscheidender Bedeutung, in denen sich diese Verhaltensweise manifestiert hatte. Diese relativistische Position klingt auf den ersten Blick nicht ganz unplausibel, denn mit Begriffen wie "kontextbezogen" oder "Einzelfallbeurteilung" oder "differenzierte Betrachtung" steht man im Allgemeinen in fast jeder Diskussion ziemlich gut da. Tatsächlich ist der Relativismus aber eine intellektuelle Stümperei der gröbsten Sorte, wie wir gleich sehen werden.



Zur Theorie

Damit wir die Sklaverei aus den Sichtweisen von Universalismus und Relativismus etwas tiefgreifender analysieren können, müssen wir zuerst verstehen lernen, wie man moralische Probleme objektiv löst. Anders als in den "harten" Natur- und technischen Wissenschaften, die ihre Ergebnisse praktisch als wahr oder falsch beweisen können, z.B. mit reproduzierbaren Experimenten, bleiben "weiche" Sozial- und Geisteswissenschaften wie die Philosophie auf sekundäre Wahrheitskriterien beschränkt.


Ob eine moralische Aussage wahr oder falsch ist, lässt sich also allein logisch-argumentativ herleiten. Zu diesem Zwecke muss die Aussage faktisch und formal gültig sein. "Faktisch gültig" bedeutet: Alle getroffenen Voraussetzungen (Prämissen) sind wahr. "Formal gültig" bedeutet: Die Schlussfolgerung (Konklusion) ist logisch zwingend, d.h. sie ergibt sich notwendig aus den getroffenen Prämissen. Zur Illustration hier ein sehr einfaches Beispiel abseits der Ethik:


Prämisse 1: Alle Menschen sind sterblich. Prämisse 2: Ich bin ein Mensch. Konklusion: Ich bin sterblich.

Nehmen wir das kurz auseinander. Beide Prämissen sind wahr; die erste, weil bisher noch jeder Mensch irgendwann gestorben ist, und die zweite, weil meine Eltern Menschen sind. Deshalb ist die faktische Gültigkeit erfüllt. Zudem geht die Konklusion logisch zwingend aus den beiden Prämissen hervor, denn falls alle Menschen sterblich sind und ich ein Mensch bin, muss ich notwendigerweise ebenfalls sterblich sein. Ergo ist auch die formale Gültigkeit erfüllt. Die Aussage "ich bin sterblich" ist demnach objektiv wahr.


Mit diesem Basiswissen im Hinterkopf nehmen wir nun in separaten Kapiteln die Argumentationslinien von Universalismus und Relativismus am Beispiel der Sklaverei genauer unter die Lupe. Danach fassen wir die Ergebnisse zusammen und rechnen ab.



Zum Universalismus

Eine gängige Argumentation des Universalismus bezüglich Sklaverei geht ungefähr so:


Prämisse 1: Alle Menschen sind von Geburt an gleichwertig. Prämisse 2: Gleichwertigkeit verlangt nach gleichen Rechten. Prämisse 3: Ungleiche Rechte verletzen die Gleichwertigkeit. Prämisse 4: Verletzungen der Gleichwertigkeit sind Unrecht. Prämisse 5: Versklavung bedingt ungleiche Rechte. Konklusion: Versklavung ist Unrecht.

Eine andere universalistische Argumentation könnte wie folgt lauten:


Prämisse 1: Alle Menschen habe eine unveräusserliche Würde. Prämisse 2: Alle Menschen streben nach Autonomie. Prämisse 3: Versklavung verletzt Menschenwürde und Autonomie. Prämisse 4: Solche Verletzungen sind Unrecht. Prämisse 5: Versklavung bedingt solche Verletzungen. Konklusion: Versklavung ist Unrecht.

Diese Herleitungen der Konklusion "Versklavung ist Unrecht" fallen in beiden Argumentationslinien aus methodischen Gründen eher abstrakt aus. Gleichwohl lässt sich sagen, dass beide Argumentationen ziemlich offensichtlich faktisch und formal gültig und mithin wahr sind.


Um diese universalistischen Argumentationslinien als ungültig zu deklarieren, müsste man einzelne Prämissen als unwahr angreifen. Möchte man also die konkludierende Aussage "Versklavung ist Unrecht" als falsch klassieren, wäre beispielsweise zu behaupten, Menschen seien nicht von Geburt an gleichwertig, es gäbe stattdessen von Natur aus so etwas wie höher- und minderwertige Menschen. Oder man müsste diesbezüglich die Behauptung führen, Verletzungen der Gleichwertigkeit wie eben die Sklaverei stellten kein Unrecht dar. Oder man hätte die Existenz von Menschenwürde und/oder Autonomie (Selbstbestimmung) zu negieren.


Prämissen wie Gleichwertigkeit, Menschenwürde oder Autonomie können naturwissenschaftlich zwar nicht "hart" bewiesen werden. Immerhin sprechen aber zahlreiche Indizien und empirische Befunde für die Existenz und Wahrheit dieser Prämissen, so u.a. die Tatsache, dass die Rassentheorie seit etwa 50 Jahren als widerlegt gilt und ergo eine natürliche Gleichwertigkeit als gegeben anzunehmen ist. Oder auch die Umstände, dass wir alle unsere eigenen Leben als wertvoll und schützenswert betrachten (Menschenwürde) sowie nach Freiheit und Selbstbestimmung streben (Autonomie). Wiewohl also heute den allermeisten Menschen ohnehin unmittelbar einleuchtet, dass Sklaverei nur falsch sein kann, gibt es für diese Annahme auch diverse gute Gründe.


Sklaverei ist demnach falsch - so weit, so gut. Doch war das schon immer und überall so? Sehen wir uns dazu nun noch den Relativismus an.



Zum Relativismus

Tatsächlich würde ein Relativist die zwei oben gezeigten, universalistischen Argumentationslinien nicht in ihren faktischen oder formalen Gültigkeiten angreifen. Stattdessen verweist der Relativismus auf den behaupteten Umstand, dass es sich lediglich um die heutzutage geltenden Argumentationen handle. Zu anderen Zeiten und/oder in anderen Kulturen hätten jedoch einzelne Prämissen nicht als wahr gegolten, weshalb sich in diesen anderen Zeiten und/oder Kulturen andere Konklusionen ergeben hätten, die für diese anderen Zeiten und/oder Kulturen gleichsam wahr gewesen seien. Konkret sah die Argumentation beispielsweise im antiken Griechenland ungefähr so aus:


Prämisse 1: Menschen sind entweder Griechen oder Barbaren. Prämisse 2: Griechen sind höherwertige Menschen. Prämisse 3: Barbaren sind minderwertige Menschen. Prämisse 4: Versklavung Höherwertiger ist Unrecht. Prämisse 5: Versklavung Minderwertiger ist Recht. Konklusion: Versklavung von Barbaren ist in Griechenland Recht.

Diese und sehr ähnliche ideologische Argumentationslinien ziehen sich durch nahezu alle Epochen der Menschheitsgeschichte. Die Sklaverei wurde für gewöhnlich mit einer behaupteten (natürlichen) Ungleichheit der Menschen legitimiert, und diese behauptete Ungleichheit mit Herkunft, Bildung, Ethnie und oft auch Religion begründet. So durften beispielsweise in christlichen Regionen die Angehörigen des Christentums nicht versklavt werden, Gläubige anderer Religionen hingegen schon. In islamisch geprägten Weltgegenden sah man das genau gleich - selbstredend bis auf den kleinen Unterschied, dass hier nicht das Christentum, sondern der Islam von der Sklaverei dispensierte:


Prämisse 1: Menschen sind entweder Muslime oder Heiden. Prämisse 2: Muslime sind höherwertige Menschen. Prämisse 3: Heiden sind minderwertige Menschen. Prämisse 4: Versklavung Höherwertiger ist Unrecht. Prämisse 5: Versklavung Minderwertiger ist Recht. Konklusion: Versklavung von Heiden ist im Islam Recht.

Formal betrachtet sind auch die relativistischen Argumentationslinien gültig: Die Konklusionen ergeben sich logisch zwingend aus ihren Prämissen. In faktischer Hinsicht wird's jedoch schwierig. Zunächst müsste man verlässlich zeigen können, dass es so etwas wie einen variablen Menschenwert überhaupt gibt und woraus sich dieser speist. Insbesondere müsste die unplausible Behauptung verifiziert werden, dass und inwiefern willkürlich bestimmte und erst noch künstliche Eigenschaften wie Staats- oder Religionsangehörigkeit eine Höher- oder Minderwertigkeit begründen. Und es wäre logisch konsistent darzulegen, weshalb man durch einen Wechsel in eine andere Staats- oder Religionsangehörigkeit quasi sofort auch seine menschliche Wertigkeit umpolen kann, was ja offensichtlich Unsinn ist.


Gänzlich absurd wird es, wenn man die relativistische Argumentation aus einer globalen Perspektive betrachtet. In ihren jeweiligen Staaten oder Religionen sind dann alle Menschen höherwertig und alle Menschen ausserhalb dieser Staaten und Religionen minderwertig, sodass sich aus einer weltweiten, staats- und religionsneutralen Optik sämtliche Menschen in einem undefinierten Überlagerungszustand aus Höher- und Minderwertigkeit befinden: Aus Sicht des Christentums sind alle Christen höherwertig und alle Muslime minderwertig, aus Sicht des Islam verhält es sich genau umgekehrt. Des Menschen intrinsischer Wert gewissermassen als Schrödingers Katze: Je nach dem, in welcher Weltgegend man die Kiste öffnet, tritt am exakt gleichen Menschen spontan eine Höher- oder Minderwertigkeit zutage.


Relativistische Argumentationen sind folglich dadurch gekennzeichnet, dass sie nur innerhalb ihres jeweiligen Bezugssystems gültig sein können - sofern sie nicht ohnehin auf faktisch falschen und mithin ungültigen Prämissen wie der Rassentheorie basieren und damit per se ungültig sind. Sobald man jedoch das jeweilige Bezugssystem verlässt und beispielsweise vom antiken Griechenland gen Osten in ein anderes Bezugssystem reist, werden die logischen Widersprüche relativistischer Argumentationen manifest: Am Zielort soll das Gegenteil dessen gelten, was am Startort galt. Plötzlich sind Sklaverei, Vergewaltigung, die Tötung Homosexueller usw. moralisch akzeptiert, kurz zuvor waren sie noch verwerflich. Nota bene aber nicht, weil sich inzwischen an diesen Verhaltensweisen etwas geändert hätte, sondern nur des geografisch oder religiös verschobenen Blickwinkels halber.


Mit solchen Einwänden und Widersprüchlichkeiten hält sich der Relativismus jedoch nicht auf. Er fällt gemütlich auf seine Ausgangsthese zurück, wonach moralische Aussagen nur innerhalb des jeweiligen Bezugssystems wahr sind und verwirft jede übergreifende Betrachtungsweise als universalistisch.



Zur Abrechnung

Wahrheit

Ich habe es bereits im Titel klargemacht: Relativismus war, ist und bleibt Humbug. Wer die Wahrheit im Allgemeinen und jene moralischer Aussagen im Besonderen nur für bestimmte Bezugssysteme (Zeit, Ort, Kultur usw.) als gültig definieren will, muss notwendig beim Verlassen seiner relativistischen Blase unlogische, widersprüchliche Ergebnisse in Kauf nehmen. Sobald der Blick auf alle Bezugssysteme ausgeweitet wird, ist nämlich ein- und dasselbe Objekt wie z.B. die Aussage "Versklavung ist Unrecht" hier wahr und dort falsch, was jeder gesunden Intuition und Alltagserfahrung widerspricht.


Die Wahrheit über ein bestimmtes Objekt hängt in keiner Weise davon ab, was wir meinen. Sie hängt einzig davon ab, was tatsächlich der Fall ist. Eine Aussage wie "die Erde umkreist die Sonne" ist wahr, weil sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt und nicht, weil wir glauben, dass das so oder anders sei. Faktisch umkreist die Erde seit etwa 4,6 Milliarden Jahren unabhängig von jedem menschlichen Fürwahrhalten die Sonne. Das ist die Wahrheit, und sie wurde und wird nicht durch Meinungen wie das geozentrische Weltbild verändert, das bis zur frühen Renaissance galt.


Damit ist etwas sehr Zentrales über den Begriff der Wahrheit gesagt, nämlich, dass Wahrheit an und für sich unveränderlich und universal ist. Von dieser Wahrheit an und für sich ist trennscharf abzugrenzen, was Menschen für die Wahrheit halten - Faktum und Meinung sind keineswegs dasselbe. Meinungen hingegen sind in der Tat veränderlich und relativ.


Wenn ein Relativist also behauptet, das geozentrische Weltbild sei ungefähr ab dem klassischen Altertum für etwa 1'800 Jahre die Wahrheit gewesen, dann ist diese Behauptung unzutreffend. Richtig wäre zu sagen, dass man das geozentrische Weltbild irrtümlicherweise für die Wahrheit gehalten und sich damit in der Erkenntnis der Wahrheit getäuscht hatte. Der Relativismus erhebt, kurzum, eine je vorherrschende Meinung zur Wahrheit ohne sich darum zu scheren, was wirklich wahr ist.


Ethik

Dass die moralische Aussage "Versklavung ist Unrecht" wahr ist, lässt sich logisch nicht konsistent bestreiten. Man kann sie nur dann für falsch halten, wenn man sich in Widersprüche verstrickt oder erbärmliche Prämissen wie eine unterschiedliche Wertigkeit der Menschen unterstellt, die sich äusserst leicht widerlegen lassen. Oder indem man grundlegende, auch empirisch nachweisbare Komponenten unseres angeborenen moralischen Empfindens wie Gleichwertigkeit, Menschenwürde oder Autonomie negiert. Nüchtern betrachtet spricht folglich überdeutlich mehr für die Wahrheit der Aussage als dagegen, ergo sollten wir sie als wahr betrachten.


Wenn die moralische Aussage "Versklavung ist Unrecht" aber wahr ist, dann muss sie auch universal gültig sein, weil Wahrheiten ja an und für sich unveränderlich und universal gültig sind, siehe oben. Es spielt keine Rolle, worauf sich eine Aussage bezieht (Umlaufbahn der Erde, Sklaverei usw.) - wenn sie wahr ist, ist sie universal gültig, eben weil sie wahr ist. Dasselbe gilt demzufolge für alle wahren moralischen Aussagen und ungeachtet dessen, ob wir deren Wahrheit erkennen oder nicht. Sofern tatsächlich jemand die Sklaverei nicht als Unrecht wahrnimmt, dann täuscht sich diese Person, indem sie eine Meinung hat, die nicht mit der Wahrheit übereinstimmt - that's it.


Todesstoss

Falls man relativistisch meint, die Wahrheit moralischer Aussagen sei immer nur das Ergebnis eines jeweiligen Bezugssystems, dann müsste man konsequenterweise gleich das gesamte Projekt der Ethik aufgeben. Dann wäre Moral letztlich nichts weiter als eine Frage von Willkür, Geschmack oder Zeitgeist und man müsste prinzipiell alle denkbaren "Werte" zu akzeptieren bereit sein, selbst jene, die gegen die rudimentärste moralische Intuition gehen, die uns Menschen eigen ist. Man müsste z.B. davon absehen, dem Bezugssystem "drittes Reich" moralische Vorwürfe für den Holocaust zu machen.


Das wäre nicht bloss sehr widerwärtig, sondern auch intellektuell armselig, denn wer legt eigentlich nach welchen Kriterien fest, was in einer bestimmten "Kultur" oder "Gesellschaft" moralisch akzeptiert wird? Wer definiert diese "gesellschaftlich akzeptierten Werte"? Tatsächlich war es historisch betrachtet nirgendwo je eine Kultur oder Gesellschaft als Kollektiv, die moralische Regeln aufstellte, sondern in nahezu allen Fällen waren es die jeweils Machthabenden. Der Relativismus kann also, um aufs Beispiel zurückzukommen, allerhöchstens die Aussage treffen, dass die herrschenden Klassen die Sklaverei akzeptiert hatten. Wenig erstaunlich, denn genau sie waren ja die Nutzniesser der Sklaverei.


Dass nun aber irgendwelche Könige und Kaiser vergangener Epochen die Sklavenhaltung nicht nur nicht bekämpft, sondern ausdrücklich legitimiert hatten, sagt absolut gar nichts über die kulturelle oder gesellschaftliche Akzeptanz dieser Praxis aus. Die von eigennützigen Motiven geprägte Meinung einer kleinen, mächtigen Herrscherkaste lässt sich weder logisch noch wissenschaftlich einfach mal eben in die Prämisse "das war damals halt die vorherrschende Meinung" umgiessen. Kurzum scheitert der Relativismus zumeist schon an seinen völlig aus der Luft gegriffenen zentralen Prämissen.


Mehr noch: Er scheitert hochkant an sich selbst, denn wenn Wahrheit tatsächlich relativ wäre, dann wäre auch die Aussage "der Relativismus hat Recht" gleichsam nur relativ wahr. Eine Denkschule aber, die sich über genau jenes Kriterium zu legitimieren sucht, das sie der gegnerischen Denkschule als falsch vorwirft - den universalen Wahrheitsanspruch -, eine solche Denkschule ist ein schlechter Witz.



Zum Nachtrag

In diesem Text habe ich mich bewusst nicht mit Fragen der Schuld und Verantwortlichkeit befasst. Damit also, ob man früheren Generationen ihre Sklaventreiberei oder andere unmoralische Verhaltensweisen wie den Kolonialismus oder den Holocaust rückblickend anlasten darf. Gleichwohl noch kurz zum Abschluss: Ja, man darf - insofern man berechtigterweise annehmen kann, dass diesen früheren Generationen die Unmoral ihrer Verhaltensweisen hätte bekannt und bewusst sein müssen.


Beim Holocaust sind sich heute bis auf ein paar unverbesserliche Gewissenskrüppel ziemlich alle einig, dass dem so ist, dass man da auch retrospektiv Schuldzuweisungen machen darf. Bei anderen, weiter zurückliegenden historischen Ereignissen wie Kolonialzeit oder Sklaverei bröckelt die Zustimmung dann bereits. Was nach meinem Dafürhalten eher wenig konsequent und schlüssig wirkt, denn weshalb sollte z.B. ein brasilianischer Sklavenhalter im ausgehenden 19. Jahrhundert etwas nicht gewusst haben, was man nur gut 50 Jahre später in Deutschland offenbar hätte wissen müssen, nämlich dass man seine Mitmenschen so nicht behandeln darf?


Ich für meinen Teil sehe jedenfalls keine glaubwürdigen Argumente, weshalb man vor 500 Jahren oder meinetwegen sogar noch früher nicht hätte wissen können sollen, dass es ganz und gar nicht in Ordnung gehen kann, Mitmenschen schlimmer als Vieh zu behandeln, zu foltern, zu vergewaltigen und zu genozidieren. Als prosoziale Herdentiere, die wir nun mal evolutionär sind, bemerken wir doch sehr schnell und ganz ohne spezielle Bildung, wenn unsere Artgenossen leiden. Empathie ist uns in die evolutionäre Wiege gelegt.


Meine These lautet daher aufs Gegenteil: Man wusste schon sehr früh um die Unmoral dieser Taten, aber ignorierte dieses Wissen aus schierem Machtkalkül, d.h. man schob jegliche Bedenken beiseite, um den nötigen Raum für politische und insbesondere wirtschaftliche Interessen zu schaffen. Solange man Menschen anderer Hautfarbe oder Religion, indigene Völker etc. nicht als Gleiche betrachtete, solange konnte man sie skrupellos ausbeuten und ihnen jegliche Rechte vorenthalten.


Man hätte es wissen können, ja müssen - aber man wollte nicht. Man setzte relative Meinung vor universale Wahrheit.

nachschlag

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