Ein Versuch über die These, dass es so etwas wie Kultur nicht gibt; zumindest nicht als Stempel zur Unterscheidung sozialer Gruppen.
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Bipolare Idiotie
Politisch ziemlich rechte Zeitgenossen bemühen seit jeher die je eigene Kultur, die es gegen fremde Unterwanderung und Durchmischung zu verteidigen gelte. Der so inszenierte Kulturkampf "wir gegen die anderen" will vermeintlich trennscharf abgrenzbare Gruppen sauber voneinander isoliert halten. So dürfen beispielsweise die Schweizer Traditionen und scheinbar landesspezifische Werte nach Meinung gewisser SVP-Schwachmaten keinesfalls durch Immigration verwischt werden. Erklärte Endgegnerin dieser nationalistisch verbrämten Ideologie ist Einwanderung aus islamisch geprägten Staaten, die man ihrer behaupteten Kulturfremdheit halber nachgerade als genuin Helvetia-inkompatibel einstuft. Der sudanesische Flüchtling im Emmentaler Bauerndorf: Wehe! Das lässt sich nicht einmal denken.
Politisch ziemlich linke Zeitgenossen bemühen jüngst vermehrt den Vorwurf kultureller Aneignung, um scheinbar einzigartige Eigenschaften einer unterdrückten Minderheit gegen die Übernahme durch eine dominierende Mehrheit zu verteidigen. Der so inszenierte Kulturkampf "David gegen Goliat" will solche vermeintlich proprietären Merkmale quasi unter Denkmalschutz stellen. So dürfen sich beispielsweise weisse Menschen nach Auffassung prominenter Aktivisten ihre Haare nicht zu Rastalocken flechten. Der Generalverdacht lautet: Hier eignet sich ein Vertreter einer Mehrheitskultur in unzulässiger Weise die Symbole einer unterdrückten Minderheitskultur an, um sich zu profilieren, Profit zu erzielen oder gar zu spotten. Ein Schweizer Musiker als Rastafari: Wehe! Das lässt sich nicht einmal denken.
Beide Kreise unterliegen jedoch einem Grundlagenirrtum: Erstere aufgrund einer inhärent rassistischen und populistischen Stupidität, letztere wegen eines pseudointellektuellen und nur scheinmoralischen Helfersyndroms. Die Krönung der bipolaren Idiotie: Zwei politische Ränder, die sich sonst bis aufs Blut hassen, setzen sich ins gleiche braune Boot, um zum Strand der identitär-völkischen Verallgemeinerung zu rudern. Diese grotesk unheilige Allianz bekämpft nun Hand in Hand Vorurteile mit Klischees. Während jedoch von der politischen Rechten seit Jahrzehnten nichts anderes zu erwartet ist - Feindbilder und mythische Verklärung der Heimatkultur sind ihre conditio sine qua non -, reibt man sich angesichts der linken Übersprungsempörung verwundert die Augen. Da haben sich einige Leute, hoffentlich wenigstens wohlmeinend, in eine allzu düstere Sackgasse verrannt.
Der eigentliche Witz an der Sache ist aber, dass es so etwas wie Kultur in einer globalisierten Welt schlicht nicht mehr gibt und auch in der Vergangenheit kaum je irgendwo gab, vielleicht abgesehen von sozial komplett isolierten, indigenen Völkern. Kultur existiert heute weder in dem Sinne, wie sie die beiden genannten Kreise für ihre jeweiligen Ziele und Absichten instrumentalisieren, noch im allgemeinen Sprachgebrauch. Der Kulturbegriff hat in all diesen Verwendungen absolut keinen nennenswerten, Nutzen stiftenden Inhalt. Im Endeffekt sagt man eigentlich gar nichts, wenn man über diese oder jene Kultur spricht. Zumindest sagt man nichts Gescheites, sondern lässt bloss ein paar stereotype Gemeinplätze vom Stapel laufen. Aber sehen wir uns das doch mal etwas genauer an.
Wo Kultur?
Was meinen wir überhaupt, wenn wir von Kulturen reden? Eine breit akzeptierte Definition dieses Begriffs gibt es zwar bis heute nicht, aber im Grossen und Ganzen wird darunter gemeinsprachlich ein unspezifisches Gemenge aus Ausdrucks- und Verhaltensweisen verstanden, worüber sozialen bzw. ethnischen Gruppen ein klar umrissener Stempel "das da ist die Kultur XY" aufgedrückt werden können soll. Aus Markern wie Sprache und Schrift, geographischer Verortung, Religion, Arbeitsethos, Wohnstil, Sitten und Gebräuchen, Kleidung und Schmuck, Essgewohnheiten, Ritualen, Heldenbildern, Kunst, Wertvorstellungen etc. will man die Einzigartigkeit einer sozialen Gruppe oder Gesellschaft herleiten. Gemeinsamkeiten hinsichtlich dieser Marker sollen also eine kollektive Identität begründen, damit man den Menschen, die dieses Kollektiv bilden, ein entsprechendes Etikett anpappen kann.
Von solchen Ansinnen beseelt meinen dann einige tatsächlich, es gäbe beispielsweise so etwas wie eine "christlich-abendländische Kultur", die mehr oder weniger die gesamte westliche Welt umfasse. Wenn wir aber die im vorigen Absatz aufgezählten Marker gedanklich durchgehen, finden wir indes nur wenige bis keine Übereinstimmungen zwischen, sagen wir, einem waffenstarrenden, QAnon-gläubigen Hillbilly aus den US-amerikanischen Südstaaten und Greta Thunberg, oder zwischen einem Bio-Kleinbauern aus der Normandie und einem Londoner Investmentbanker. Was schliessen wir daraus? Eine irgendwie statische und auch nur halbwegs homogene "christlich-abendländische Kultur" existiert nicht, sie ist ein faktenbefreites Hirngespinst. Der Okzident inkl. USA wird von dermassen vielen, völlig unterschiedlichen Individuen bevölkert, dass deren Zusammenfassung zu einer einzigen Kultur etwa gleich nützlich ist wie der Sammelbegriff "Früchte" für Ananas, Dattel, Mango, Kumquat und Birne.
Tja, gehen wir halt auf eine tiefere Ebene, sehen wir uns die Schweiz an. Es wird doch wohl in einem so kleinen Land wenigstens eine "Schweizer Kultur" geben. Aber, oh weh, auch Nicola Siegrist, junger Student der Geographie und aktueller Präsident der hiesigen Jungsozialisten, hat kaum etwas gemein mit jemandem wie Edy I., einem aufgepumpten Bodybuilder, der als Tessiner Polizist mit Facebook-Beiträgen in Verruf geriet, in denen er deutschen und italienischen Faschisten huldigte und Ausländer als "Hunde und Schweine" bezeichnete. Nicht genug? Okay, wie verhält es sich mit den kulturellen Gemeinsamkeiten zwischen einem reichen Genfer Rohstoffhändler und einem anthroposophischen Ergotherapeuten aus dem Baselland? - Hm, merkwürdig: Das gleiche kleine Land, aber völlig unterschiedliche Menschen. Mistikack also, auch eine "Schweizer Kultur" gibt's nicht. Wer denkt, Kultur mache an Landesgrenzen halt, ist aber ohnehin im geistigen Tiefstflug unterwegs. Einfach mal Wien besichtigen, danach ins österreichische Tirol fahren, anschliessend ins italienische Südtirol weiterreisen und letztlich Napoli besuchen, dann wird der nationalistische Denkfehler relativ gut greifbar.
Keine supranationale Kultur, keine landesspezifische Kultur - na schön, tauchen wir noch weiter ab. Wie wäre es mit einer zwar fiktiven, gleichwohl aber realistischen Familie. So ein paar wenige Menschen müssen jetzt aber dann wirklich dieselbe Kultur teilen. Also: Der Vater, ein ehemaliger Grundschullehrer, wählt SVP und teilt deren Weltanschauung, hört Klassik und Oldies, spielt diverse Instrumente, kleidet sich leger-elegant, mag gutbürgerliche Küche. Die Mutter, eine ehemalige Hausfrau und Bibliothekarin, ist eher apolitisch, hört deutschen Schlager, liest und jasst, kleidet sich unscheinbar, mag gutbürgerliche Küche. Der ältere Sohn, Qualitätsmanager, ist trotz linksökologischer Gesinnung politikverdrossen, hört alles ausser Volksmusik, ist künstlerisch und handwerklich begabt und Vater von vier Kindern, kleidet sich locker-sportlich, ernährt sich meist vegan. Der jüngere Sohn, Projektleiter, Parteimitglied der Grünen, hört alles ausser Volksmusik, mag Spiele, schreibt und singt und hat keine Kinder, kleidet sich durchschnittlich, ernährt sich vorwiegend vegetarisch bis vegan. Und nun? Ein paar wenige Übereinstimmungen, aber abgesehen von der Blutsverwandtschaft und der Sprache finden wir auch nicht wirklich viele Gemeinsamkeiten, aus denen wir eine Familienkultur ableiten könnten. Blöd.
Um den Gipfel dieses kulturdefinitorischen Stumpfsinns zu erklimmen, könnte ich letztlich noch die Geschichte eines Individuums erzählen, das bis etwa Mitte 20 zunächst politisch eher rechts verortet war, erst Heavy Metal hörte und Fussball spielte, danach inklusive Wechsel der Kleiderordnung zu Rap und Basketball wechselte, sich später elektronischer Musik und allerlei synthetischen Drogen zuwandte, anschliessend mit sich selbst gehörig über die Bücher ging und sich mit Religion und Philosophie auseinandersetzte, um sich von erster ab- und zweiter zuzuwenden, politisch nach linksgrün driftete, immer weniger Fleisch konsumierte, zwischendurch mal noch ohne grosses Interesse Betriebswirtschaft studierte, für ein Hilfswerk arbeitete usw. - Aber diese Geschichte braucht nicht erzählt zu werden, weil schon dieser kurze Abriss zeigt: Nicht mal am einzelnen Menschen können wir über seine gesamte Lebenszeit eine einheitliche, gleich bleibende Kultur festmachen.
Let it be
Aber gut, die Kulturwissenschaftler betonen ja stets, eine Kultur sei nie statisch noch homogen, da gebe es immer massiv viel Dynamik und Heterogenität, Überlagerungen, Vermischungen, Subkulturen. Diese interdisziplinäre Forschung vereinigt übrigens Aspekte aus fast allen Geistes- und Sozialwissenschaften. Schon alleine daran lässt sich erkennen, wie völlig überfrachtet der Kulturbegriff daherkommt. Weil man nicht so recht weiss, was damit eigentlich gemeint sein soll, schmeisst man einfach alles hinein, was mit dem Menschen zu tun hat und nicht von Naturwissenschaften abgedeckt wird - und endet dann in der generalisierten Definition von Kultur, die bloss noch lautet: Alles in Zusammenhang mit dem Menschen, was nicht unveränderte Natur ist, ist Kultur. Wer auf dieser Flughöhe klare Unterscheidungsmerkmale zur eindeutigen Kategorisierung finden will, ist per se zum Scheitern verurteilt.
In Japan essen sie mit Stäbchen anderes Essen als bei uns, haben eine eigene Sprache und Schrift, traditionelle Kleider und Musik weichen von den unsrigen ab, viele Menschen sind ausgesucht höflich und zurückhaltend, arbeiten sich zu Tode etc. Wenn wir einen solchen Strauss aus regional gehäuft auftretenden Gemeinsamkeiten feststellen, der sich von anderen Sträussen in anderen Weltgegenden unterscheidet, meinen wir, eine bestimmte Kultur entdeckt zu haben. Wir glauben dann zuversichtlich, die Frage "was ist japanische Kultur" beantworten zu können. Aber sobald wir auch nur ein paar Kilometer in die eine oder andere Richtung reisen und uns mit einzelnen Menschen unterhalten, stellen wir ziemlich schnell fest, wie diese Antwort bloss das Fundament eines neuen Klischees war. Es gibt nun mal einfach keine Schablone "mustergültiger Japaner", keine Blaupause "echter Schweizer", sondern nur verallgemeinerten Bullshit, um Menschen in Schubladen zu stecken und sie darob zu Marionetten einer "Kultur" zu degradieren, die es so klar umrissen in der Wirklichkeit schlicht nicht gibt.
Wenn nun aber, wie es in der Realität evident der Fall ist, jede Kultur gewissermassen stufenlos-graduell in jede andere Kultur zerfliesst und übergeht, dann ist keine Kultur hinreichend konkretisier- und greifbar, dann lässt sich nicht eine einzige Kultur klar von einer anderen abgrenzen und bezeichnen. Kultur hat schon nur definitionsgemäss nicht den Charakter eines Gesteinsplaneten wie der Erde mit ihrer klar umrissenen Oberfläche, sondern jenen eines Gasriesen wie des Jupiters, dessen Gas von seinen äusseren Schichten bis zum Kern allmählich immer dichter wird. Will meinen: Kultur ist, wenn wir ehrlich mit uns selbst und unseren Mitmenschen sein wollen, so etwas wie ein Regenbogen im Nebel oder ein nahezu unendlich fein abgestufter Farbverlauf. Letzten Endes existieren mangels scharfer Ränder und Kanten annähernd so viele Kulturen, wie es überhaupt menschliche Individuen gibt. Und eben dadurch wird der Kulturbegriff leer, weil er keinen zweckmässigen Inhalt hat, mit dem sich sinnvolle Aussagen treffen liessen. Mit einem Statement wie "in Japan essen die meisten Menschen mit Stäbchen" ist schon alles Wesentliche gesagt; ein Suffix wie "das ist Teil ihrer Kultur" hat absolut keinen Zusatznutzen.
Mit leeren Begriffen sollten wir nicht hantieren. Schon gar nicht erst, wenn diese Begriffe oftmals bloss verwendet werden, um die Menschheit widersinnig und widernatürlich zu spalten und uns voneinander zu trennen. Wir sollten uns einfach damit begnügen, dass wir eine Menschheit sind, dass diese eine Menschheit unendlich bunt und divers daherkommt - und dass es letztlich völlig scheissegal ist, wer mit Stäbchen und wer mit Messer und Gabel futtert, oder wer weshalb Rastalocken trägt. Was am Ende wirklich und einzig zählt, ist, dass wir für Gleichheit und Gerechtigkeit kämpfen, gegen jegliche Form von Diskriminierung, insgesamt also für die Würde, Freiheit und Selbstbestimmung eines jeden Individuums.
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