Heute lag ein wunderbarer Flyer der "Freunde der Verfassung" in meinem Briefkasten. Form und Inhalt erinnern stark an Machwerke der SVP, und weil das ja meine absolute Lieblingspartei ist, habe ich mich natürlich vertieft mit dem Schriftstück auseinandergesetzt.
Der Flyer ist nicht besonders gelungen und hat mich daher nicht wirklich überzeugt - weder vom Layout her noch inhaltlich. Aber weil mir ein auf Fakten beruhender Meinungsbildungsprozess wichtig ist, liess ich es mir nicht nehmen, dem Referendumskomitee über meinen Fake-Mailaccount "Ueli Hugentobler" einige Verbesserungsvorschläge zukommen zu lassen. Ob ich wohl dereinst eine Antwort erhalte?
Von: ueli.hugentobler@mail.ch
An: sekretariat@verfassungsfreunde.ch
Betreff: Korrigenda zum Covid-Flyer
Sehr geehrte Damen und Herren
Ich hatte heute Ihren Flyer zur Kampagne "Covid-Gesetz nein" im Briefkasten, besten Dank dafür. Weil sich in diesem Schriftstück bedauerlicherweise zahlreiche inhaltliche Fehler eingeschlichen haben, erlaube ich mir, Ihnen hiermit eine Korrigenda zu übermitteln.
Ich würde es sehr begrüssen, wenn Sie den Flyer dementsprechend überarbeiteten und die Haushalte anschliessend auch mit der bereinigten Fassung bedienten, damit sich das Stimmvolk auf Basis dessen, was tatsächlich der Fall ist, eine Meinung bilden darf.
Zu den Fehlern im Einzelnen:
Titelseite, Header "Das Covid-Gesetz" beendet die freie Schweiz": Mit diesem Titel wird insinuiert, dass die Inkraftsetzung des Covid-19-Gesetzes restlos alle Freiheiten innerhalb der Schweiz dauerhaft aufheben und mithin den demokratischen Rechtsstaat endgültig beerdigen würde. Die zahlreichen hiesigen Freiheiten sind im ersten Kapitel des zweiten Titels der Bundesverfassung als "Grundrechte" beschrieben: Die Freiheit von Missachtungen der Menschenwürde (Art. 7 BV) und der Rechtsgleichheit (Art. 8 BV), die Freiheit von willkürlicher Behandlung (Art. 9 BV), die persönliche Freiheit (körperliche und geistige Unversehrtheit und Bewegungsfreiheit gemäss Art. 10 BV, besonderer Schutz von Kindern und Jugendlichen gemäss Art. 11 BV), die Freiheit von menschenunwürdigem Dasein (Art. 12 BV), die Freiheit von Missachtung der Privatsphäre (Art. 13 BV), die Freiheit zu Ehe und Familie (Art. 14 BV), die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV), die Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 16 BV), die Medienfreiheit (Art. 17 BV), die Sprachenfreiheit (Art. 18 BV), die Freiheit zu kostenlosem Grundschulunterricht (Art. 19 BV), die Wissenschaftsfreiheit (Art. 20 BV), die Kunstfreiheit (Art. 21 BV), die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV), die Vereinigungsfreiheit (Art. 23 BV), die Niederlassungsfreiheit (Art. 24 BV), die Freiheit von Auslieferung an ausländische Behörden (Art. 25 BV), die Freiheit zu Privateigentum (Art. 26 BV), die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV), die Koalitionsfreiheit (Art. 28 BV), die Freiheiten von ungleicher resp. unfairer Behandlung vor Gericht und bei Freiheitsentzug (Art. 29 bis 32 BV), die Freiheit zur Einreichung von Petitionen (Art. 33 BV), die Freiheit zur Ausübung politischer Rechte (Art. 34 BV), die Freiheiten zur Verwirklichung der Grundrechte und von unzulässigen Einschränkungen derselben (Art. 35 und 36 BV). - Faktisch wird nun aber mit dem Covid-19-Gesetz nicht eine einzige dieser Freiheiten beendet und folglich beendet das Gesetz auch nicht die freie Schweiz. Die Aussage des Titels ist demnach falsch. Mit dem Gesetz werden lediglich einige wenige Freiheiten wie z.B. die Wirtschaftsfreiheit punktuell beschränkt, sofern dies nach bestem Treu und Glauben zur Pandemiebewältigung erforderlich ist.
Titelseite, Kasten "Gesetz diskriminiert Ungeimpfte": Der Gesetzestext enthält nicht eine einzige Bestimmung über Impfungen und/oder den Umgang mit Geimpften resp. Ungeimpften, folglich ist diese Aussage falsch.
Titelseite, Kasten "Massenüberwachung! mit umfassendem Contact-Tracing": Der Gesetzestext enthält keinerlei Bestimmungen über Contact-Tracing und auch keine anderen Artikel, die auf eine wie auch immer geartete Massenüberwachung abzielen, folglich ist diese Aussage falsch.
Titelseite, Kasten "Rechte verlieren für wacklige Entscheidungen?": Es ist unklar, welche Rechte hier angesprochen werden. Die als Frage formulierte Aussage ist nach allgemeinem Verständnis aber, dass die Menschen in der Schweiz per Annahme des Gesetzes Rechte verlieren würden. Dem ist nicht so, da mit keinem Passus des Covid-19-Gesetzes bestehende Rechte dauerhaft ausser Kraft gesetzt werden, siehe auch Pkt. 1 oben, sondern lediglich einzelne Rechte zwecks Pandemiebewältigung temporär eingeschränkt werden können. Diese als Frage formulierte Aussage ist demnach in dem Sinne falsch, als damit der Eindruck erweckt wird, man werde per Annahme des Gesetzes quasi dauerhaft ganz oder teilweise entrechtet.
Innenteil, Header "ARGUMENTE: Alles spricht für ein NEIN zum Covid-Gesetz!": Mit dem Gesetz werden im Wesentlichen die Unterstützungsleistungen für besonders betroffene Menschen, Betriebe und Branchen geregelt. Für diese Leistungen würde bei einer Ablehnung ab September 2021 die gesetzliche Grundlage fehlen, was diese Menschen, Betriebe und Branchen gefährden könnte, sofern bis dahin nicht ein anderes diesbezügliches Gesetz erarbeitet würde. Dies ist nur ein Argument, das für die Annahme des Gesetzes spricht, folglich ist die Aussage des Headers falsch, wonach "alles" für die Ablehnung spräche.
Innenteil, Absatz "DER SOUVERÄN BESTIMMT!": Das Covid-19-Gesetz wurde ordentlich vom Parlament beschlossen (im Nationalrat mit 153 Ja- gegen 36-Nein-Stimmen bei 6 Enthaltungen und im Ständerat einstimmig) und untersteht gemäss Art. 141 BV dem fakultativen Referendum. Dieses Referendum wurde ebenso ordentlich ergriffen, weshalb das Gesetz nun zur Abstimmung gelangt. Die Aussage, das Gesetz sei "am Volk vorbeigeschmuggelt" worden, ist also falsch.
Innenteil, Seite 1, Absatz "DAS GESETZ DISKRIMNIERT UNGEIMPFTE": Falsche Aussage, siehe Pkt. 2 oben.
Innenteil, Seite 1, Absatz "RECHTE VERLIEREN FÜR ENTSCHÄDIGUNGEN?": Der erste Satz "Die beste Hilfe für Unternehmen ist die sofortige Beendigung der schädlichen Massnahmen." entspricht einer Behauptung. Es existieren weltweit keine Belege dafür, dass wirtschaftliche Schäden geringer ausfielen, wenn die Politik keine Massnahmen zur Pandemiebewältigung ergreifen würde. Ebenso wenig existieren weltweit Belege dafür, dass Massnahmen zur Pandemiebewältigung im Allgemeinen schädlicher wären als die völlige Absenz von Massnahmen. Ansonsten siehe auch Pkt. 4 oben.
Innenteil, Seite 2, Absatz "MASSENÜBERWACHUNG MIT UMFASSENDEM CONTACT TRACING": Falsche Aussage, siehe Pkt. 3 oben.
Innenteil, Seite 2, Absatz "WIDERSPRÜCHE NOCH UND NÖCHER!": Der erste Satz "Das Covid-Gesetz ist ein Desaster für die Freiheit" entspricht einer falschen Aussage. Als "Desaster" wird gemeinhin ein grosses Unglück oder nachgerade ein Zusammenbruch verstanden. Dass das Gesetz diese Auswirkungen auf die Freiheit nicht hat, habe ich bereits im Pkt. 1 oben erläutert. Im Satz "Seit Beginn basieren die meisten Massnahmen auf Ungereimtheiten..." kommt ihre persönliche Sichtweise zum Ausdruck, was idealerweise auch so formuliert würde, ansonsten der Anschein entstehen könnte, es handle sich dabei um eine faktenbasierte Aussage. Wenn man strenger urteilen wollte, müsste man auch diese Aussage als falsch bezeichnen, weil "ungereimt" üblicherweise als "keinen Sinn ergebend" interpretiert wird, was sachlich und nüchtern betrachtet insbesondere zu Beginn der Pandemie auf keine der Massnahmen zutraf.
Innenteil, Seite 2, Absatz "KEINE UNDEMOKRATISCHE VOLLMACHT FÜR DEN BUNDESRAT": Der Titel des Absatzes und die Aussage des ersten Satzes "Das Covid-Gesetz enthält keine Kontrollmöglichkeiten" ist insofern falsch, als der Bundesrat ohnehin in allen Belangen durch das demokratisch legitimierte Parlament kontrolliert wird. Der zweite Teil des Satzes "..und keine Haftung der Verantwortlichen" ist insofern falsch, als es in der Politik so oder so keine Haftpflicht gibt und zudem Art. 162 BV den Mitgliedern der Bundesversammlung und dem Bundesrat die Immunität einräumt. Die Aussage "...so nützen sie [die Massnahmen] kaum. Sie richten im Gegenteil verheerenden Schaden an." ist eine reine Behauptung, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch ist, denn Massnahmen wie Kontaktreduktion, Abstand und Masken sind bei einer Infektionskrankheit wissenschaftlich belegt überaus nützlich und mithin geeignet, Leben zu retten und Krankheit zu vermeiden. Eine wissenschaftlich fundierte Gesamtbilanz von Nutzen und Schäden der Eindämmungsmassnahmen existiert bis dato nicht und deren Erarbeitung wird vermutlich auch mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet sein, weil darin etwas prinzipiell Unbewertbares (menschliches Leben) bewertet werden müsste.
Innenteil, Seite 2, Absatz "KEINE GEKAUFTE BERICHTERSTATTUNG": Die Aussage "Die Mediensubventionen erhöhen sich mit dem Covid-Gesetz auf neu 480'000'000 Franken jährlich!" ist falsch, da das Gesetz in seinem Art. 14 (Buchstaben a bis c) lediglich drei vorübergehende Massnahmen enthält und keinen entsprechenden Betrag. Die Kosten dieser drei Massnahmen belaufen sich aber nicht mal annähernd auf den genannten Betrag, und sie werden spätestens per Inkrafttreten eines Bundesgesetzes zur Medienförderung wieder aufgehoben werden. Auch die Aussage "Der Bundesrat kauft sich die Medien und beendet damit die Pressefreiheit." ist falsch, weil erstens der Bundesrat über das Covid-19-Gesetz kein Eigentum an Medien erwirbt. Zweitens ist die Pressefreiheit nur dann als beendet zu betrachten, wenn das Recht der Medien auf ungehinderte und unzensierte Ausübung ihrer Tätigkeit nicht mehr wirksam ist, was mit dem Covid-19-Gesetz in keiner Art und Weise herbeigeführt werden kann.
Innenteil, Seite 3, Absatz "KEIN GRUND ZUR PANIK": Die aus der Ionnaidis-Studie zitierte Zahl für die Infektionssterblichkeit von 0.15% resp. die Aussage "...steht fest: Lediglich 0.15 Prozent der Infizierten versterben an den Folgen des Virenbefalls." wird von einer überwiegenden Mehrheit der Fachleute als unzutreffend bezeichnet, weshalb diese Aussage wie auch der Hinweis, es handle sich um eine "weltweit anerkannte Studie" falsch ist. Der wissenschaftliche Konsens liegt derzeit bei einem Wert zwischen 0.5% und 1% und damit bei einem verglichen mit der Grippe um den Faktor 5 bis 10 erhöhten Todesrisiko. Ebenso falsch ist die Aussage, in besagter Studie seien "die Daten von 1.5 Milliarden Infizierten" ausgewertet worden. Die Zahl der laborbestätigten Infektionen beträgt aktuell etwas über 160 Millionen, in dieser vehement umstrittenen Studie wurde also eine Dunkelziffer extrapoliert.
Aussenteil, Seite 1, Absatz "NEIN ZU ERPRESSERISCHER POLITIK": Der Titel ist in dem Sinne falsch, als eine Erpressung nur dann gegeben ist, wenn eine rechtswidrige Bereicherungsabsicht unter Anwendung von Gewalt oder Androhung empfindlicher Übel zu Lasten anderer vorliegt. Der Tatbestand der Erpressung liegt offensichtlich auch deshalb nicht vor, da ja auf demokratischem Wege nun über das Gesetz abgestimmt wird. Auch der Satz "öffnet Willkür Tür und Tor" entspricht einer Fehlaussage, da das Gesetz die Befugnisse des Bundesrates sehr präzise und mit wenig Spielraum regelt. Falsch ist im Weiteren die Aussage, das Gesetz trage "mit stümperhaften Risikoeinschätzungen und Massnahmen wie Lockdowns [dazu bei, die Schweiz] in die grösste Wirtschafts- und Gesellschaftskrise seit dem 2. Weltkrieg [zu stürzen]". Erstens sind Risikoeinschätzungen kein Gegenstand des Gesetzes und zweitens beruhen die Massnahmen nicht auf dem Covid-19-, sondern weiterhin auf dem vom Volk abgesegneten Epidemiengesetz.
Mit Verlaub: Sie sollten meines Erachtens dringend in Erwägung ziehen, Ihr stümperhaftes (dies ist leider die einzig angemessene Bezeichnung) Lektorat zu ersetzen. Ich habe noch selten in einem derart kurzen Schriftstück dermassen viele Fehlaussagen feststellen müssen. Man könnte fast meinen, Ihnen sei gar nicht an der Wahrheit gelegen, sondern vielmehr an deren Umdeutung.
Besten Dank für die Kenntnisnahme. Ich freue mich schon sehr auf den korrigierten Flyer.
Freundliche Grüsse,
Ueli Hugentobler
Nachtrag/Update vom 19.05.2021
Eine Antwort habe ich erwartungsgemäss bislang leider noch keine erhalten. Mir ist aber inzwischen klar geworden, dass die im Abstimmungsbüchlein abgedruckte Fassung des Gesetzes nicht die aktuellste ist. In der Version vom 01.04.2021 relativieren sich einige meiner Punkte oben ein ganz klein wenig:
2/7: Die "Freunde der Verfassung" beziehen sich mit ihrem Diskriminierungsvorwurf zunächst auf Art. 3a des Gesetzes, wonach geimpfte Personen neu von der Quarantänepflicht befreit werden sollen, was doch eigentlich genau im Sinne des freiheitsliebenden Referendumskomitees sein müsste. Mit anderen Worten legt es das Referendumskomitee als Diskriminierung aus, wenn Ungeimpfte wie bisher im Rahmen der Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie in genau definierten Gefahrensituationen in Quarantäne müssen. Weitere Diskriminierungen sehen die "Freunde der Verfassung" darin, dass das Gesetz die Grundlage für ein Covid-Zertifikat bildet, mit dem sich Geimpfte, Genesene und Getestete künftig den Eindämmungsmassnahmen entledigen können. Auch hier ist die Argumentation natürlich völlig gaga, da mit dem Zertifikat ja Freiheiten zurückgewonnen werden. Und wer sich nicht impfen lassen will, kann sich testen lassen. Oder anstecken und durchseuchen. Volle Eigenverantwortung und Freiheit für alle also. Und wo genau ist jetzt die Diskriminierung?
3/9: Die aktuelle Fassung des Gesetzes enthält insbesondere im Art. 3b gewisse Bestimmungen hinsichtlich des Contact-Tracings. Diese Bestimmungen sind aber erstens als "kann" formuliert, zweitens lässt sich daraus kein diesbezügliches Obligatorium ableiten (das es ja bisher schon nicht gab), und drittens hat ein anonymes, die Privatsphäre wahrendes Contact-Tracing mit Massenüberwachung etwa soviel gemeinsam wie eine Nacktschnecke mit einem Nashorn - beides sind Tiere. Wow.
Damit hat es sich dann aber auch schon. Der grosse Idiotiekern des Referendums bleibt somit völlig unangetastet, bloss an dessen Oberfläche haben sich ein paar Krümelchen leicht verschoben.
Danke für den tollen Text!