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AutorenbildChatty Avocado

Geisterteilchen - boohoo, motherfucker!

Aktualisiert: 6. Apr. 2023

Schon der Beitrag über Neutronensterne behandelte kleine Objekte - nach astronomischen Massstäben. Aber immerhin ging es darin auch um gigantische, tödliche Grössen wie Masse, Tempo, Schwerkraft, Magnetismus. Jetzt wird's absurd winzig - nach jedem Massstab.

Bild: Pixabay.com (geralt)


Der zweite Beitrag über ein Dings aus dem Reich der Physik - und ich geb's ja offen zu: Das Thema fasziniert mich, ich weiss eigentlich nicht mal so recht wieso. Denn weiland in der Oberstufe machte mir Physik in etwa so viel Spass, als wenn mir beim Händewaschen die Ärmel runterrutschen.


Diese damalige Unlust war wesentlich der Lehrperson geschuldet. Der merkwürdige Mensch hatte einerseits mit seinem Bürstenschnitt, der Stasi-Gedächtnis-Hornbrille und dem konsequent graubeigen Outfit etwas unangenehm Reaktionäres an sich. Andererseits pflegte er eine dermassen feuchte Aussprache, dass man froh war, wenn der Aushilfs-Heisenberg hinter seinem Tresen verblieb und sich möglichst nicht in die Nähe der ersten beiden Sitzreihen begab. Ein Superspreader vor dem Herrn.


Nur ganz selten erfrischte ein sanfter Hauch guter Laune den Klassenzimmermief, so beispielsweise beim Knallgasexperiment: Da strahlte der olle Pauker über alle Backen und wirkte für einen kurzen Moment wie ein (deformiertes und hässliches) Kind, das sich gerade in einer Kirmes-Schiessbude das allergrösste Plüschi erkäpselt und darob die Zeit seines Lebens hatte. Man durfte sich fremdfreuen.


Die Frage bleibt: Wieso Physik? Nun, weil es darin um Aufbau und Verhalten der Natur geht, die uns alle umgibt und von der wir ein Teil sind. Und weil mit dem Nachdenken über Ursprung und Ende aller Dinge untrennbar auch das "hä, aber warum?!" verknüpft ist. Wahrscheinlich kann die Physik diese letzten Sinnfragen nie beantworten - aber sie kann zumindest Indizien liefern, wie sie gestellt werden müssen.


Wie dem auch sei: Und worum zum Teufel geht's in diesem Text nun eigentlich? Also, es geht um Neutrinos. Das sind bizarre Elementarteilchen mit äusserst seltsamen Eigenschaften, Geisterteilchen eben. Sehen wir uns diese Winzlinge doch mal etwas genauer an, wollen wir?


Elementar... oh, Moment

Zunächst sollten wir uns eine ungefähre Vorstellung darüber verschaffen, was Elementarteilchen eigentlich sind. Wir nähern uns der Sache chronologisch an.


Bis ins tiefe 17. Jahrhundert hinein bestand die vorherrschende Lehrmeinung darin, Materie sei aus unterschiedlichen Kombinationen der vier alchemistischen Elemente (Wasser, Erde, Feuer und Luft) aufgebaut. Diese Vier-Elemente-Lehre war gut zwei Kilojahre zuvor im antiken Griechenland von Naturphilosophen erdacht worden, die mit einiger Wahrscheinlichkeit der Päderastie zugeneigt waren. Ausgemachte Schweinepriester. Kein Wunder also, kam man auf solch hirnverbrannten Unfug.


Erst anno 1661 fand dann ein überkandidelter Teekopf zwischen zwei Bissen Yorkshire Pudding:

"Darling, but matter must consist of itsy-bitsy tiny little corpuscules" (jaja, frei erfundenes Zitat)

Dieser Brite meinte also ganz grundsätzlich, das "Al-" vor der "Chemie" müsse jetzt mal schön weg, nur schon des arabischen Anklangs wegen (jaja, frei erfundene Unterstellung). Seine Atomhypothese fand jedenfalls so oder so allenthalben grossen Anklang (womöglich mit Ausnahme des arabischen Raums) und wurde sukzessive verfeinert und erweitert.


Die Atomhypothese wurde gut 250 Jahre später aufgrund eines von Einstein in seinem Aufsatz mit dem wohlklingenden Titel "Über die von der molekularkinetischen Theorie der Wärme geforderte Bewegung von in ruhenden Flüssigkeiten suspendierten Teilchen" ersonnenen Experiments bestätigt. Herrlich. Würde der Knilch noch leben, ich hätte ihn längst als Gastautor für verbosus.ch akquiriert. Wer solche Titel schreibt, kann einfach nur ein feiner Kerl sein.


Im angebrochenen 20. Jahrhundert schloss man wenig später aus Beobachtungen der Radioaktivität, dass beim Atom noch nicht wirklich Ende Elementargelände sein konnte. Und so stiess man auf die Protonen und Neutronen im Atomkern und die Elektronen in der Atomhülle. Das griechische Atomos war demnach alles andere als unteilbar. Zurück ins Fass, Tsatsikifrosch.


Fun Fact: Massstabsgetreu dargestellt würde zum Atomkern mit dem Durchmesser von einem Millimeter eine Atomhülle mit dem Durchmesser von 100 Metern gehören, etwa die Länge eines Fussballfeldes. Weil der Atomkern aber über 99,9% der Atommasse stellt, besteht Materie weitestgehend aus, nun ja, einer ziemlich leeren Wahrscheinlichkeitswolke, in der Elektronen umherflitzen. Letztere sind übrigens auch Elementarteilchen.


Jetzt aber richtig elementar

Die anderen beiden Pseudo-Elementarteilchen im Atom hatten nur eine eher geringe wissenschaftliche Halbwertszeit: Anfang der 1960er Jahre wurde postuliert, Protonen und Neutronen setzten sich aus noch kleineren Fitzelchen zusammen. Das Postulat war alles andere als Quark: Ab 1969 wurde diese neue Theorie experimentell bestätigt und Stand heute sind insgesamt 61 Elementarteilchen bekannt.


Zwölf davon sind Neutrinos, aber weil nur deren drei in der uns bekannten Materie natürlich vorkommen, werden wir uns auf dieses Triumvirat beschränken und der Einfachheit halber auch nicht nach Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos unterscheiden. Wie wir noch sehen werden, wäre diese Unterscheidung hier sowieso wenig relevant, denn ein Wind of Change umweht Neutrinos.


Wie man sich Elementarteilchen vorstellen muss, weiss niemand so richtig - abgesehen davon, dass sie sich je nach Experiment wie Wellen oder Teilchen verhalten. Die Quantenfeldtheorie nimmt an, für jedes Elementarteilchen wabere im kosmischen Gewebe ein eigenes Kraftfeld, und Elementarteilchen seien punktförmige (nulldimensionale) Anregungen des jeweiligen Felds. Ergo ist ein Neutrino das sichtbare Aufblitzen des Neutrinofelds in den von uns wahrnehmbaren Dimensionen.


Man kann sich solche Felder stark vereinfacht als eine bewegte Meeresoberfläche vorstellen und die je zum Feld gehörigen Elementarteilchen als Delfinschnauzen, die dann und wann herausschauen. Das Neutrino wäre in diesem Bild dann also eine die Neutrino-Meeresoberfläche durchstechende Neutrino-Delfinschnauze. So long, and thanks for all the fish...


Hi, wie geht's?

Auf einer Dating-Plattform würde sich ein Neutrino vielleicht ungefähr so präsentieren:

Neutrönchen, 65 Geisterteilchen im Unruhestand 299'792 km entfernt [refresh] 0 km entfernt [refresh] 299'792 km entfernt [refresh] [error] Ich bin: - schlank - schnell - wandelbar - und seeehr durchdringend ;)

Wir übersetzen das mal ein bisschen. Zum Alter: Das Neutrino - italienisch für "kleines Neutron", "Neutrönchen" - wurde 1930 hypothetisch vorgeschlagen, seine erste Beobachtung gelang 1956 im Rahmen des Projekts "Poltergeist" (no shit).


Zu BMI und Speed: Die Masse des Neutrinos ist extrem gering, weshalb es sich annähernd mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegt. Lichtgeschwindigkeit ist übrigens ziemlich rasant: Für die knapp 150 Millionen Kilometer von der Sonne zur Erde benötigt das Licht gute acht Minuten. Mit dem Auto bräuchte man für diese Strecke bei 120 Stundenkilometern etwa 140 Jahre.


Zur Wandelbarkeit: Auf ihren Reisen verändern sich Neutrinos periodisch zu Artgenossen. Das nennt sich Superposition: Genauso wie Schrödingers Katze gleichzeitig tot und lebendig ist, sind Neutrinos quasi gleichzeitig Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino. Während in unserer makroskopischen Welt jeder Messvorgang an einem unveränderten Objekt, z.B. einem toten Delfin, dasselbe Ergebnis liefert, kriegt man bei Elementarteilchen bisweilen bei jeder Messung ein anderes Ergebnis.


Bevor wir noch zur Durchdringungsfähigkeit kommen, ein kleiner Exkurs über Masse. Weil spannend.


Massig Energie

Im Alltagsgebrauch wird Masse als jene Kraft verstanden, die man zum Anschubsen eines ruhenden Objekts benötigt. Um beispielsweise einen perforierten Delfin mit der Harpune ins Boot zu ziehen, braucht man deutlich mehr Kraft als dafür, die Katze vom Couchtisch zu treten. Weil Flipper eben mehr Masse hat als Mimi, leuchtet ja unmittelbar ein. Aber was gibt Delfin und Katze denn ihre Massen?


Man weiss es nicht genau. Völlig diffus wird die Geschichte nämlich beim Abtauchen in subatomare Gewässer: Bricht man das Proton eines Atomkerns auseinander, stellt man fest, dass seine drei Bestandteile (Quarks) nur gerade 1% der Masse des Protons ausmachen. Und die restlichen 99%? Kommen von der Bindungsenergie, die die drei Quarks zum Proton zusammenpappt.


Tja, das ist jetzt etwas kontraintuitiv, nicht wahr? Wenn man im Supermarkt drei Orangen kauft und diese in ein hauchdünnes Plastikbeutelchen steckt - ja, genau eins dieser Dinger, die irgendwann viel später irgendwo das Blasloch eines Delfins verstopfen werden -, würde man schliesslich auch nicht erwarten, dass alles zusammen plötzlich hundertmal schwerer wird, bloss weil jetzt ein Beutelchen die Früchte umschliesst. Aber auf subatomarer Ebene ist nichts normal, geschweige denn intuitiv.


Um es kurz zu machen: Die Physik hat kaum Ahnung, was Masse eigentlich ist - trotz Entdeckung des Higgs-Bosons. Aber da Neutrinos ohnehin fast masselos sind, tut das hier glücklicherweise nicht viel zur Sache und wir können uns endlich durchdringenderen Themen zuwenden.


Geht gut ohne Gleitmittel

Bei den Fusionsprozessen im Innern unserer Sonne entstehen irrwitzig viele Neutrinos. Nach etwa zwei Sekunden haben sie die Oberfläche der Sonne erreicht und nach gut acht Minuten die Erde. Schau jetzt mal eben auf deine Hand. Ja, egal welche, meine Güte...


Jede Sekunde gehen ungefähr 1'000 Milliarden Sonnen-Neutrinos durch deine Hand hindurch - ohne dass du etwas davon merken würdest (und nein, an deinem Handschweiss sind nicht die Neutrinos schuld). Genau deswegen werden Neutrinos als Geisterteilchen bezeichnet: Für sie ist normale Materie quasi inexistent, sie flitzen einfach mittendurch wie Gespenster durch Hauswände.


Die Penetrationsfähigkeit der Neutrinos - und nein, ich werde mich jetzt ganz bestimmt nicht bemüssigt sehen, das Neutrino als Rocco Siffredi der Elementarteilchen zu bezeichnen (Notiz an mich selbst: diese Bemerkung vor der Veröffentlichung entfernen) - ist von ihrer Bewegungsenergie abhängig, die je nach Entstehungsquelle variiert. Stellen wir uns eine vergleichsweise dicke Wand aus Blei vor, so richtig fett. Ein Sonnen-Neutrino wird auf seinem Weg durch diese Wand durchschnittlich erst nach 350 Milliarden Kilometern (die es in knapp zwei Wochen zurücklegt) ein anderes Elementarteilchen sodomisieren.


Im ziemlich dummen, gleichwohl unterhaltsamen (wenn man Weltuntergängen etwas Unterhaltsames abzugewinnen vermag) Katastrophenfilm "2012" wird das genretypische "hülfehülfe, wir werden alle sterben"-Karussell übrigens durch Neutrinos angeworfen, die plötzlich mit Materie zu wechselwirken beginnen. Nach einer heftigen Sonneneruption heizen sie den Erdkern auf und ab geht die Luzie.


Das ist wissenschaftlich zwar in etwa so haltbar wie das übliche Argumentarium eines Leer-, äh, Querdenkers, aber was Roland Emmerich gemeinhin auf der Leinwand anrichtet, war noch selten Bildungsfernsehen, immerhin jedoch Grund genug für einen zünftigen Eimer Popcorn - omnomnom.


Gotcha Bitch!

Zurück zum Thema und zur Frage "wie macht man eine Geisterteilchenfalle?". Für die Erforschung von Neutrinos werden riesige Detektoren gebaut. Einer davon ist der Super-Kamiokande in Japan: Etwa 1'000 Meter unter dem Erdboden wurde in einer alten Mine ein Tank aus rostfreiem Stahl mit einem Durchmesser und einer Höhe von je etwa 40 Metern errichtet.


Die Wände des Tanks sind mit ungefähr 13'000 Photovervielfachern ausgekleidet, die schwache Lichtsignale bis hin zu einzelnen Photonen (Lichtteilchen) detektieren können. Der Tank selbst ist mit 50'000 Tonnen hochreinem Wasser gefüllt. Die Innenwände mit den Photovervielfachern sehen so aus:

Bild: Chatty Avocado :-)


Mit dem Super-Kamiokande werden pro Tag durchschnittlich 15 Neutrinoereignisse aufgezeichnet, d.h. täglich knallen 15 Neutrinos mit Atomkernen des Tankwassers zusammen und die Photovervielfacher registrieren diese Kollisionen. Zum Vergleich: Pro Quadratzentimeter gehen jeden Tag 6 Billiarden Sonnen-Neutrinos auf die Erde nieder. Die Ausbeute in Neutrinodetektoren ist demnach eher mager, aber wann war Geisterjagd jemals ein Strandspaziergang, hä? Also Schnauze.


Auch in Teilchenbeschleunigern wie jenem am CERN in Genf werden Neutrinos erzeugt. Sofern man diese mit einem Detektor vermessen will, braucht man lediglich den Neutrinostrahl in dessen Richtung zu senden - selbst wenn der Detektor am anderen Ende der Erde steht, z.B. in Japan. Denn fast der gesamte Neutrinodampf geht, wie wir inzwischen gelernt haben, ohne jegliche Wechselwirkung durch den Planeten hindurch. Auch für Sie klar, Herr Emmerich?


Und wozu das Ganze?

Zunächst einmal sollte man sich klarmachen, dass das Universum ohne Neutrinos furzlangweilig wäre, denn ohne sie gäbe es keine komplexeren Elemente als Wasserstoff - und Wasserstoff ist quasi das Lego-Duplo der Elemente, also nur semi-lustig. Neutrinos gehören zu den häufigsten Elementarteilchen - für jedes Proton gibt es schätzungsweise eine Milliarde Neutrinos -, ihre Erforschung dient fundamental der Erklärung des Universums.


Im Wesentlichen will die Wissenschaft verstehen lernen, wie die Materie im frühen Universum kurz nach dem Urknall entstanden war (ich nehme auch hier ganz bewusst keine Rücksicht auf Kreationisten). Die Neutrinoforschung liefert zudem Erkenntnisse darüber, was im Innern von Sternen wie unserer Sonne vor sich geht - und wie Sterne bei Supernovae explosiv untergehen.


Nicht zuletzt möchte man mit Neutrinodetektoren grosse vereinheitlichte Theorien (GUT) der Physik beweisen, um sich der Weltformel (TOE) anzunähern. Und doch: Eine solche Theorie von Allem wäre gleichwohl "nur" eine vollständige Beschreibung aller physikalischen Phänomene. Der menschliche Geist, sein Bewusstsein, war und ist der Physik nicht zugänglich.


In eben dieses Bewusstsein sollten wir uns vielleicht gelegentlich mal wieder rufen, dass unsere Welt ziemlich sicher ein besserer Ort wäre, wenn wir alle uns bisweilen etwas mehr wie Neutrinos verhielten, indem wir darauf achteten, weniger physische und psychische Kollisionen mit unseren Mitmenschen zu verursachen. Und indem wir keine Delfine und/oder Katzen plagen.

2 Kommentare

2 Comments


Ivana C
Ivana C
Feb 24, 2021

WOW! 🙀

Wieder ein phantastisches Werk, auch wenn mein Kopf nun raucht...

Das ist aber nicht dem Schreiberling geschuldet, sondern schlicht und ergreifend weil ich meine liebe Mühe damit habe die Physik zu verstehen 🥴


Danke für diesen Beitrag 🙏

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Chatty Avocado
Chatty Avocado
Feb 24, 2021
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@Ivana C



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