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AutorenbildChatty Avocado

Ismus, der

Aktualisiert: 11. Juni 2023

"nach lateinisch …ismus = Endung männlicher Substantive, insbesondere mit der Bedeutung: Lehrmeinung, Richtung", so der offizielle Duden. Aber er ist mal wieder nicht vollständig, wie dieser Beitrag beweist: Yours truly hat Euch zehn neue Ismen gelismet.


Wie kommt's zu diesem Text? Zwei Gründe: Erstens befasse ich mich ja seit einiger Zeit, wie man dem Blog-Archiv unschwer entnehmen kann, mit Ethik. Und darin wimmelt es nur so von Ismen; Philosophie als Petrischale für die Ismen-Anzucht, Philosophie als Ismen-Hebamme, Philosophie als Ismenismus. Zweitens habe ich im Verlaufe der Pandemie mein Mitteilungsbedürfnis nebst Blog auch auf SRF und Watson mit zeitweise fast krankhafter Kommentarschreiberei zu befriedigen versucht. Zu Diskussionen, die diese Bezeichnung auch wirklich verdienen, kommt es in den Kommentarspalten meiner Erfahrung nach aber nur selten. Immerhin lassen sich bei den anderen Autoren gewisse Argumentationsmuster ausmachen und daraus wiederum quasi archetypische Weltsichten ableiten. Ismen also.


Wenn wir gerade dabei sind: Das Kommentieren ist leider häufig eher Frust als Lust, woran die Ismen einen wesentlichen Anteil haben. Keimzelle dieser Frustration ist meine partielle Unfähigkeit, mich in gewisse Mitmenschen einzudenken - gepaart mit deren renitentem Unwillen, dem besseren Argument den Vorzug zu geben. Paradebeispiel für dieses frustrierende Kuriosum ist der Klimawandel: Seit bald 200 Jahren wird daran geforscht, und in den letzten ca. 50 Jahren wurden mehrere Hunderttausend klimatologischer Studien veröffentlicht. Davon kommen etwa 97% zum Schluss, dass die globale Erwärmung, die ungefähr zeitgleich mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert einsetzte, ein reales, menschengemachtes Phänomen ist und eine grosse, existenzielle Bedrohung für uns alle darstellt.


Die Sachlage ist so klar, wie eine dermassen komplexe Angelegenheit nur irgendwie klar sein kann. Dennoch gibt es eine nicht unwesentliche Zahl von Menschen, die das alles für Humbug und Hysterie halten. Solange es Leute sind, die ihr Geld in der Ölindustrie o.ä. verdienen: Geschenkt. Das sind dann wohl einfach habgierige Idioten, die kurzfristigen Profit gegenüber langfristigem Überleben bevorzugen. Aber was ist mit dem 08/15-Ueli Hugentobler, der den Klimawandel leugnet? Was hat er davon?


In meinem zugegebenermassen etwas verkopften Kosmos ist das ein grosses, ungelöstes Rätsel. Ich meine: Kein normaler Mensch geht doch in seinen eigenen Gemüsegarten kacken - schon alleine deswegen, weil ein mit E. coli gewürzter Nüsslisalat eine eher unangenehme "Aftermath" haben kann (After, hihi). Weshalb ist es dann so schwierig, dieses furzeinfache Prinzip auf die globale Ebene zu abstrahieren? Warum kann man nicht einfach einsehen, dass es ziemlich unklug ist, unablässig im grossen Stil den Planeten einzuscheissen? Wie kann man sich der Einsicht verschliessen, dass ein endliches Ökosystem per definitionem nicht unendlich aufnahmefähig ist für allerlei Schadstoffe?


Dasselbe Muster der bewussten Ignoranz von Fakten und der willentlichen Ausblendung moralischer Gründe manifestiert sich auch in anderen Themen und Problemfeldern, seit einiger Zeit z.B. im Rahmen der Corona-Pandemie. Und ich verstehe einfach nicht, was solche Menschen an- und umtreibt. Geht's hauptsächlich ums Geld? Um die Angst vor der Zukunft, die Furcht vor Veränderung, vor dem Fremden? Oder ist diese Realitätsflucht einfach nur Dummheit oder das emergente Phänomen einer gelungenen rechtspopulistischen Indoktrination? Letztlich: Wie holt man diese Menschen wieder mit ins Boot, zurück zur Wahrheit? - Wer eine Idee hat, darf sie mir herzlich gerne in die Kommentare schreiben.



 
Selektivszientismus

Selektivszientisten geben wenig bis nichts auf wissenschaftliche Mehrheitsmeinungen. Diese Konsense werden selbst dann negiert oder ignoriert, wenn sie wie im Falle des Klimawandels deutlich breiter sind als der sichtbare Horizont inmitten des Grossen Pazifischen Müllteppichs. Das oberste Leitprinzip des Selektivszientismus besteht also nicht in der Wahrheitsfindung, sondern im zwanghaften, kategorischen Rechthaben und -behalten gegen jegliche Widerstände.


"Recht" meint hier begrifflich übrigens nicht das, was man für gewöhnlich in einem nicht-juristischen Kontext darunter versteht, nämlich der Bezug auf etwas, das tatsächlich der Fall ist. "Im Recht sein" bedeutet für Selektivszientisten vielmehr, dass sie irgendwo im weltweiten Netz eine das Gewünschte behauptende Quelle gefunden haben. Zu diesen Quellen zählen nebst geltungsgeilen Hanswursten wie z.B. Sucharit Bhakdi nicht zuletzt auch Hochglanz-"Faktenchecks", die auf "wissenschaftlichen" Studien beruhen, welche oftmals von institutionellen Selektivszientisten (Parteien, Wirtschaftsverbände, Unternehmen, Thinktanks usw.) beauftragt und finanziert worden sind.


Über alle Massen stolz auf ihre Quellen sind Selektivszientisten in jenen eher seltenen Fällen, in denen besagter Hanswurst über einen akademischen Titel egal welcher Disziplin oder Einrichtung verfügt. Wenn ein Dr. Kevin Schaumschläger auf YouTube etwas vom Stapel lässt, dann hat das halt mehr Gewicht, als wenn's nur ein unstudierter Kevin Schaumschläger ist. Da sieht man auch darüber hinweg, wenn sich ein pensionierter Mikrobiologe entgegen seines diesbezüglich laienhaften akademischen Curriculums plötzlich zum Heiland der Virologie und Epidemiologie aufschwingt und sich anmasst, die Endlösung der Pandemiefrage gefunden zu haben. Fun Fact: Josef Mengele, ein Wegbereiter des postmodernen Selektivszientismus, war weiland 1935 zum Dr. phil. promoviert worden.


Der Selektivszientismus ist also, in einem pseudowissenschaftlichen Kontext, eine Sonderdisziplin der Rosinenpickerei. Darin erwählt er sich in aller Regel nur die hässlichsten, ungeniessbarsten Rosinen (mal ganz abgesehen davon, dass sowieso kein Mensch, der noch ganz bei Trost ist, Rosinen mag). Diese Pickerei ist aber kein Selbstzweck, mit dem Rechthaben ist die Rosine noch nicht gemümmelt. Sinn und Zweck der seltsamen Übung ist nämlich (ergänzend zum Selbstwerterhalt qua Rechthaben) die Ableitung und Begründung allerlei verquerer politischer Forderungen. Dazu aber muss man sich im Recht wähnen und überzeugt sein, das Gute und Richtige zu denken und tun, und diese Überzeugung wird ihrerseits wiederum durch die Pickerei genährt. Alles dreht sich also letztlich um die Rosine der "Wahrheit", aber Selektivszientisten sehen den Kuchen vor lauter Rosinen nicht mehr, oder behaupten geradewegs, der Kuchen sei eine Lüge.


Mit anderen Worten besteht die primäre Aufgabe und Daseinsberechtigung des Selektivszientismus darin, seine Anhänger genau mit jenen Argumenten zu versorgen, derer sie zur Abstützung ihrer längst vorgefassten Meinungen ("Corona ist Fake!") oder zur Erreichung ihrer Ziele bedürfen ("CO2 ist gut fürs Klima - verheizt weiter sorglos Öl!"). Als flankierende Massnahme errichtet der Selektivszientismus für Gegenargumente, die mit der Weltanschauung oder anderweitigen An- und Absichten (Macht, Profit etc.) der Selektivszientisten unvereinbar sind, eine unpassierbare Firewall. Der Schutzmechanismus ist eminent wichtig, denn die Ideologiewände von Filterblasen können zwar oft massiv sein, aber Fakten sind für solche Wände auf Dauer, was Weihwasser für Vampire oder Kryptonit für Superman ist.


 
Ibjkaismus

Das solide Fundament einer ibjkaistischen Kommunikationskultur wird durch den Unwillen betoniert, sich selbst als das zu benennen, was man gemessen an seiner externalisierten Geisteshaltung wohl tief drin wesentlich und überzeugt ist. Ibjkaisten beginnen Sätze regelmässig mit "Ich bin ja kein [x], aber...", wobei [x] üblicherweise als Platzhalter dient für zurecht negativ konnotierte Begriffe wie u.a. Rassist, Klimaleugner, Verschwörungstheoretiker, Lennister. Ibjkaisten sind folglich entweder in Selbsterkenntnis kaum geübt, oder aber in Selbsttäuschung übermässig versiert.


Zum besseren Verständnis hier ein Beispiel für eine klassisch ibjkaistische Aussage: "Ich bin ja kein Rassist, aber je mehr Pigmente einer hat, desto mehr wiegt er auch, und je schwerer einer ist, desto anstrengender ist für ihn körperliche Arbeit - und genau deshalb war es ganz okay, dass man seinerzeit die vollpigmentierten Sklaven auf den Baumwollplantagen zu mehr Leistung an-, äh, auspeitschte."


Nun ist aber allgemein bekannt, dass zumindest bei einigen Zeitgenossen - sicher aber bei Ibjkaisten -, so ziemlich alles vor einem "aber" für gewöhnlich als Bullshit allerersten Geruchsbelästigungsranges ignoriert werden sollte. Das wusste schon Benjen Stark in "Game of Thrones": "Mein Bruder sagte mir mal, dass nichts, was jemand vor dem Wort 'aber' sagt, wirklich zählt."


Mit Bezug auf ibjkaistische Aussagen kann diese Faustregel gemeinhin ohne jeden Informations- bzw. Erkenntnisverlust auch auf alles nach dem "aber" ausgeweitet werden, da in solchen Aussagen das "aber" ungefähr das Pendant eines Zwischenpupses im Rahmen einer ordentlichen Morgensitzung ist. Eine in den meisten Fällen angemessene Replik auf ibjkaistische Aussagen wäre demnach, bevor man sich angewidert abwendet: "Du weisst gar nichts, Jon Schnee."


 
Duderecusationismus

Duderecusationisten sind zutiefst verrohte, cineastische Taugenichtse, die die epische Grossartigkeit des unschätzbaren Meisterwerks "The Big Lebowski" und/oder Filmen ähnlicher Güte nicht zu erkennen vermögen, oder schlimmstenfalls gar explizit in Abrede stellen.


An diese Menschen, deren höchst bedauernswerte Geschmacksverirrung nicht selten zu allem Übel darin gipfelt, einen Dwayne Johnson o.ä. mit der Bezeichnung "Schauspieler" zu adeln, ist jeder Millimeter Zelluloid verschwendet. Mehr noch: Wäre man gewaltbereit, wollte man solcherlei Gesindel am liebsten in einen Kinosaal pferchen und selbigen bis auf die Grundmauern niederfackeln, indem man hinter der Leinwand einige Rollen entarteter Filmkunst (z.B. "The Fast and the Furious") entflammt.


Nach aktuellem Kenntnisstand ist Duderecusationismus glücklicherweise oft zumindest partiell heilbar. Dazu ist nur in seltenen, schweren Fällen eine progressive Aversionstherapie mit Zwangsfixierung und Augenklammern erforderlich, derweil das Werk in Endlosschleife bis zur finalen Heilung vorgeführt wird (sog. Ludovico-Technik).


In aller Regel tritt bei den meisten Patienten eine rasche Verbesserung des Zustands bereits durch sanftere Herangehensweisen ein, indem ihnen in einem kuschelig-angenehmen Ambiente artverwandte Filme nähergebracht werden. Empirisch gut abgestützt ist die Eignung u.a. von "Burn After Reading", "Fargo", "Die fabelhafte Welt der Amélie", "St. Vincent" und ganz sicher auch "Grand Budapest Hotel".


 
Liberabsolutismus

Der Liberabsolutist - ein in seinem gesunden Menschenverstand akut bis chronisch verstrahlter Mitläufer einer radikalen Minderheitenbewegung - hält Freiheit für das alle anderen Grundrechte überstrahlende Menschenrecht und duldet hier keinerlei Einschränkungen, selbst wenn diese noch so mickrig und/oder in einer gesellschaftlichen Gesamtbetrachtung noch so nützlich bzw. moralisch geboten wären. Ganz allgemein krankt der Liberabsolutismus an einer unnachgiebigen Überbetonung von staatsbürgerlichen Rechten, indessen er den Pflichten bestenfalls einen stillen, dunklen Platz auf der Ersatzbank zuweist.


Die Dämmerung des Liberabsolutismus brach endgültig und grossflächig mit der Corona-Pandemie über die westliche Welt herein (im globalen Süden gibt's echte Probleme, weshalb der Liberabsolutismus dort nur wenig populär ist). Schon kurz darauf fanden sich allenthalben putzige, bunt gemischte Trüppchen unter Bannern wie "Freunde der Verfassung" oder "Querdenker" in europäischen Innenstädten zu Demonstration und Saubannerzügen ein, um lauthals gegen vermeintliche Diktaturen anzukrakeelen, die ihre Freiheiten rechtsmissbräuchlich, willkürlich und unverhältnismässig zu limitieren trachteten.


Derweil die Ordnungskräfte eben dieser herbeifabulierten Diktaturen in den meisten Fällen artig Spalier standen, in Gedanken den himmlischen Vater anflehend, er möge doch einen neuronalen Starkregen darnieder schicken, um wenigstens die gröbsten Dachschäden der Liberabsolutisten zu lindern.


Allein: Mit ihren Protestaktionen verstiessen die Liberabsolutisten a) in mannigfaltiger Weise gegen Verfassung und geltendes Recht, und diese Aktionen waren ebenso b) willkürlich (rücksichtslos auf die eigene Sache gerichtet) wie c) unverhältnismässig (äh, Pandemie anyone?). Die Liberabsolutisten erwiesen sich damit in erster Linie als heuchlerische, grenzdebile Verräter an den eigenen Werten, und auf vielen anderen Ebenen - nicht zuletzt wegen unverhohlener Sympathien für den Selektivszientismus - als bemitleidenswerte, latent therapiebedürftige Zeitgenossen.


 
Carnifinöggelismus

Carnifinöggelisten sind zart besaitete, cholerische Omnivoren. Sie werden schon alleine dadurch massiv getriggert, dass jemand am Tisch die Frage "bist du Vegetarier?" scheu und einsilbig bejaht. Für radikale Anhänger des Carnifinöggelismus kommt sogar die pure Anwesenheit von Menschen, die kein Fleisch essen, einem schier unerträglichen ideologischen Affront gleich.


Je nach Gemütslage arbeiten Carnifinöggelisten ihre Empörung auf mit schamhafter Verteidigung ("aber ich nur selten und dann auch immer Bio, imfall"), peinlich berührter, pseudohumoristischer Ablenkung ("aber ich bin doch auch ein Vegetarier, zweiter Ordnung halt, weil die Kühe fressen das Gras und ich dann die Kühe, gnihihi"), oder auch aggressiven Gegenangriffen ("ich lasse mir von dir sicher nicht deine Extremernährung aufnötigen, du scheiss Tofu-Nazi").


Sachliche Debatten mit Carnifinöggelisten sind selten angenehm und noch seltener fruchtbar. Was aber wenig erstaunt, zumal die Letztbegründung für Fleischkonsum doch notwendig im persönlichen Geschmackserlebnis münden muss, da jedes objektive Pro-Argument dazu verdammt ist, in einen widerständigen Lauch hinaus zu laufen resp. auf dem Grill der guten Gründe in kanzerogenem Rauch aufgeht.


Im Wissen darum lassen sich solche Debatten (und bisweilen auch Freundschaften, darin ähneln diese Debatten einer Partie Monopoly) stark abkürzen, indem man veranschaulicht, dass der Wunsch nach Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse üblicherweise auch von Sodomiten, Nekro- und Pädophilen als einzig relevanter Handlungsgrund angeführt wird, und dieser Grund daher höchstwahrscheinlich kein besonders ausgeprägtes, intrinsisch-moralisches Gewicht haben kann.


 
Cancultismus

Cancultismus kann als postmoderner Schmelztiegel verstanden werden, in dem sich ibjkaistische und selektivszientistische Bewegungen zu einer zähflüssigen, formlosen Strömungsmasse vermengen. Die Sprachrohre des Cancultismus veranstalten auf selbsternannten Alternativmedien (u.a. Weltwoche, Fox News) ein grosses, mit "cancel culture" verschlagwortetes Buhei darüber, die freie Meinungsäusserung werde vom linken Mainstream und ähnlichem Ungeziefer gezielt und verschwörerisch beschnitten, um eine allumfassend verheerende, sozialistisch-orwell'sche Gesinnungsdiktatur zu errichten.


Cancultisten geht es ganz gehörig gegen den Strich, wenn ihr diskriminierendes, Fakten ignorierendes bzw. verdrehendes bzw. erfindendes, oder halt anderweitig idiotisches Gebrüll offen missbilligt wird und/oder Widerspruch erfährt. Sie finden, jede noch so hirnverbrannte Meinung müsse von jedermann als valables Argument gewürdigt und in einer auch öffentlichen Diskussion gebührend berücksichtigt werden, selbst wenn diese Meinung nicht mal halbwegs selektivszientistisch abgestützt ist. Einem beherzten Cancultisten den wesentlichen Unterschied zwischen Meinung und Wissen erläutern zu wollen, kommt dem Versuch gleich, einer Braunalge beizubringen, im Stechschritt zu paradieren während sie das Horst-Wessel-Lied bei konstanten 88 bpm absingt.


Kritiker des Cancultismus wenden ein (insofern sie die Existenz des Phänomens "cancel culture" überhaupt als gegeben annehmen), die vom stramm erigierten Penis der freien Meinungsäusserung abgecancelte, runzlige Vorhaut hätte ohnehin keinen erkennbaren Nutzen, zumal Fremdenfeindlichkeit, Klimaleugnung und dergleichen Unfug mehr die Welt ja gut begründbar nicht voranbrächten, und man sich nüchtern betrachtet besser einfach nur mit der nackten, sauberen Eichel der Wahrheit befasse.


Unter dem Strich ist mit Blick auf den Cancultismus mittlerweile dahingehend ein vernünftiger Konsens erkennbar, dass man an der freien Meinungsäusserung aus verfassungsrechtlichen Überlegungen nicht herumschnippeln will - die hier besprochene Vorhaut lässt sich nämlich kaum trennscharf einkreisen; setzt man zu hoch an, bringt's nicht viel, setzt man zu tief an, wären womöglich selbst völlig harmlose Formulierungen wie "Tofu-Nazi" illegal. Cancultistischen Schreihälsen begegnet man im Alltag daher auch weiterhin idealerweise einfach mit der ihnen gebührenden Ignoranz. Heisst, bildlich gesprochen: Zurückziehen und Kappenkäse abwaschen.


 
ÖkonoTOEismus

Nachdem sich der Neoliberalismus während etwa vier Jahrzehnten vergeblich daran versuchte, die Welt vor dem Hintergrund dessen umfassenden Scheiterns doch noch von seiner Tauglichkeit zu überzeugen, ging aus ihm jüngst der ÖkonoTOEismus hervor. Diese neuere wirtschaftswissenschaftliche Denkweise vereinfacht die Leitprinzipien des Neoliberalismus dahingehend, dass sie den historisch gewachsenen Kapitalismus in seiner reinsten, ungebändigten Form zur "theory of everything" einer dauerhaft stabilen Weltordnung deklariert. Auf diese Weise wurde zudem für politische Auseinandersetzungen mit "aber das schadet der Wirtschaft" eine schlagkräftige, äusserst griffige Formel eingeführt, die auch ab zwei Promille am Stammtisch noch gut verstanden und artikuliert wird.


ÖkonoTOEisten sind oftmals quasi in Personalunion auch vorbildliche Weltuntergangspropheten und wahre Meister der Simplifizierung: Die Wirtschaft ist Auenland, der Staat ist Mordor - und was den lieben, unschuldigen Hobbits nur irgendwie das Fusshaar kräuselt, und sei es auch nur ganz kurzfristig, verwandelt sie schnurstracks in hässliche, nach Tod und Verwesung stinkende Orks.


Eine weitere Stärke von ÖkonoTOEisten ist selektivszientistische Dissoziation. So gelingt ihnen beispielsweise locker die Konklusion, Umweltschutz könne einzig und alleine durch aus dem freien Markt hervorgegangene technische Innovationen gewährleistet werden. Oder die Wirtschaft würde ohne jede orkisch-linke Einmischung dereinst eine akzeptable Verteilungsgerechtigkeit herstellen.


Dass die Welt aber nach bald 250 Jahren Volldampf-Industriekapitalismus mit Schall und Rauch an der Schwelle eines ökosystemischen Kollapses angelangt ist und die Sache mit den marktwirtschaftlichen, technischen Innovationen demzufolge offensichtlich nicht so richtig klappt, blenden ÖkonoTOEisten ebenso gekonnt aus wie die Tatsache, dass auch heute noch weit mehr als die Hälfte aller Menschen in bitterer bis bitterster Armut lebt - fernab eines auenländischen Idylls.


PS: Der grossartige Film "Der Schacht" illustriert eindrücklich die Funktionsweise des ÖkonoTOEismus.


 
OvaBenedictismus

Alle, die ihr Morgenessen schon mal an einem Hotelbuffet erstreiten mussten, wissen nur allzu gut: Frühstück ist Krieg. Und wie im Krieg werden die begehrtesten Güter am unnachgiebigsten umkämpft - ohne Pardon, ohne Gnade. Insbesondere dann, wenn am Buffet auch das GröFaZ gereicht wird (Grösstes Frühstück aller Zeiten), und zugleich wackere OvaBenedictisten daran teilnehmen.


Der OvaBenedictismus ist eine neuzeitliche Frühstücksreligion, die auf der unmittelbar einleuchtenden Einsicht fusst, dass "Eggs Benedict" die MOAB sind - die "mother of all breakfasts" (oder eben das GröFaZ, wenn man's nicht so mit Anglizismen hat). Das vordringlichste Anliegen von OvaBenedictisten besteht darin, der Welt das Evangeliovum dieser einzig wahren Speise zu vermitteln, die jedermann zumindest einmal wöchentlich vor der Mittagsstunde zu sich nehmen sollte.


Aktueller Heiliger Vater des OvaBenedictismus ist Papst Benedikt IV (wer sonst?), sein Domizil liegt in der holländischen Ortschaft Saus. Parallelen zum Katholizismus sollten indes keine gezogen werden, da sich beide Religionen in einem zentralen Punkt fundamental unterscheiden: Im OvaBenedictismus sind Eier und deren lustbefördernder Einsatz von konstitutiver Bedeutung, ganz offen und transparent. Ihnen wird also nicht, wie im Vatikan, irgendwie klandestin über Hintertüren im Ministrantenwesen gehuldigt.


Angehörige des OvaBenedictismus neigen zwar zu eher stark ausgeprägtem Radikalismus. Ein solcher erscheint hier aber ausnahmsweise angemessen bis sogar dringend angezeigt, wenn man sich die garstigen Feinde der kanonischen Lehrmeinung vor Augen führt: Besonders üble Ketzer preisen z.B. Spinat oder Zwieback als vertretbare Zutaten an, sodass einem nur schon beim blossen Gedanken daran sofort der Dotter stockt! Glücklicherweise wurden die Blasphemiker (unter ihnen OvaFlorentinisten und OvaHussardisten) im ersten und einzigen grossen Schalenbruchkrieg niedergerungen und in die kulinarisch gerechtfertigte Bedeutungslosigkeit zurückpochiert.


 
Antisinistrismus

Antisinistristen begegnen einer nicht sehr klar umrissenen Gruppe von Menschen und/oder deren Anliegen mit unverhohlener Herabwürdigung und Abscheu. Ursächliches Merkmal dieser konfrontativen Haltung ist die von Antisinistristen oftmals stereotyp und stark vereinfachend wahrgenommene politische Ausrichtung der anvisierten Gruppe (links).


Antisinistristen sind nicht zuletzt daran erkennbar, dass sie die ihnen wenig genehmen Mitmenschen gebetsmühlenartig und nicht sehr wohlmeinend als "Gutmenschen" oder "Moralapostel" titulieren. Auch ihre immer mal wieder klar durchscheinende Führersehnsucht zählt zu den besonderen Kennzeichen von Antisinistristen. Ihre Faszination für (Möchtegern-) Autokraten lässt sie bisweilen situativ sogar jede Rechtsstaatlichkeit vergessen, obschon sie selbst sich zu deren glühendsten Befürwortern zählen. So entblöden sich Antisinistristen beispielsweise nicht, neuzeitliche russische Quasi-Zaren zu verteidigen, wenn diese mal wieder ein paar Hundert friedliche Demonstranten zu blutigem Klump dreschen lassen.


Als "links" betrachtet der Antisinistrismus nahezu jede Denk- und Handlungsweise, die den Fokus auf eine nachhaltig möglichst gute Welt für möglichst viele Menschen richtet. Dies insbesondere dann, wenn die Begründung teilweise oder ausschliesslich mit moralischen Erwägungen geführt wird. Mit Moral kennt sich der Antisinistrist üblicherweise nicht besonders gut aus. Einerseits, weil er den Begriff an sich schon als "links" wahrnimmt und darob aufsteigende Übelkeit verspürt, andererseits, weil er darunter nichts weiter als eine subjektive Meinung zu verstehen imstande ist. Antisinistrismus ist folglich mit nur wenigen Ausnahmen der siamesische Zwilling des ethischen Analphabetismus.


Klassisch "links" aus der Optik von Antisinistristen sind Anliegen wie u.a. Klima- und Umweltschutz, materielle Verteilungsgerechtigkeit, Minderheitenschutz, Chancengleichheit, soziale Wohlfahrt, Armutsbekämpfung, internationale Kooperation, Arbeitnehmerschutz usw. - Im Antisinistrismus zählt, wie die vorgenannten Beispiel verdeutlichen, demnach nicht das beste Argument, sondern gegen "linke" Anliegen wird einigermassen konsequent eine Fundamentalopposition eingenommen - und zwar einfach nur deshalb, weil sie als "links" wahrgenommen werden.


Sofern sich Antisinistristen zu ihrem Unwillen gezwungen sehen, ihre eigene Position zu begründen, werden sie sehr oft sehr laut und bedienen sich, in einem ibjkaistischen Duktus, mangels sachlicher Argumente für gewöhnlich des ÖkonoTOEismus und/oder des Selektivszientismus. Sehen sich Antisinistristen mit (in wahrer Hülle und Fülle verfügbaren) Gegenargumenten konfrontiert, begeben sie sich bei unreduzierter Lautstärke in eine erbärmliche Mümümü-Opferrolle und wechseln flugs in den cancultistischen Modus.


 
Praesenaturalismus

Praesenaturalisten wohnt die unverrückbare Überzeugung inne, die gegenwärtigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen seien historisch korrekt gewachsen, und in ihnen komme daher die wahre Natur des Menschen ideal zum Ausdruck. Diese Natur bestehe darin, dass der Mensch ein egoistisches, genetisch amoralisches, von destruktiven Instinkten getriebenes Wesen sei, dem vermittels strengster Erziehung und allerlei harten "law and order"-Zwängen ein kurzes, dünnes Mäntelchen der Zivilisation übergestreift werden müsse, um seine biologische Verderbtheit einigermassen im Zaume zu halten.


Dumm ist nur: Diese auf Thomas Hobbes zurückgehende Fassadentheorie der menschlichen Spezies bröckelt zusehends. Wissenschaftliche Erkenntnisse verdichten sich, wonach wir eine angeborene Moral haben, die sich evolutionär herausbildete, wir also im Grunde gut sind - der "homo puppy". Ein dergestalt positives Menschenbild deckt sich auch mit gesunder Intuition. Man braucht sich bloss mal zu fragen, ob eine Spezies, die sich bei jeder Gelegenheit gegenseitig die Scheisse aus dem Leib prügelt, tatsächlich einen evolutionären Vorteil haben kann verglichen mit einer Spezies, die freundlich und kooperativ ist.


Von solcherlei Gedankengut will der Praesenaturalismus nichts hören. Gemässigtere Anhänger sind zwar gelegentlich bereit, gewisse Mängel der bestehenden Ordnungen einzugestehen, wischen diese aber in aller Regel gleich wieder vom Tisch mit argumentativen Totschlägern wie "die Welt ist nun mal nicht gerecht". Und negieren damit den Umstand, dass diese bestehenden Ordnungen inklusive ihrer inhärenten (Un-) Gerechtigkeiten von Menschen geschaffen worden sind und mithin von Menschen auch ganz gut und jederzeit wieder verändert werden könnten.


Unverbesserliche Praesenaturalisten reiten also lieber weiter ein zunehmend heftiger lahmendes Pferd. Für sie gibt es auf dem wohligen Hof ihrer veränderungsresistenten Gegenwartsbehaglichkeit nur die beiden Zustände "Gaul" und "Ex-Gaul", und an den letzteren glauben sie ohnehin nicht so wirklich. Solange das Hottehü noch vorankommt, sollte man nicht eingreifen, sonst könnte es noch schlimmer werden - "never change not even a dying system". Jene, die sich einen Ex-Gaul immerhin vorzustellen vermögen, betrachten diesen Zustand als unausweichlich und beschränken sich auf Palliativpflege.


Dabei wäre der Zukunft von Praesenaturalisten und der ihrer Nachkommen doch mit offenkundig hoher Wahrscheinlichkeit deutlich besser gedient, wenn sie sich mal ein wenig um den Zustand, um Hege und Pflege ihres Reittieres kümmerten. Denn vielleicht gibt's halt einfach nur das eine Pferd, und sobald Fury endlich im Schlachthaus angelangt ist, tja, dann guten Appetit uns allen bei der Henkersmahlzeit. Wie warb das Hotel Rössli im aargauischen Hunzenschwil gleich nochmal? Ah ja, genau: "Gestern noch geritten - heute schon mit Fritten". Wer hätte dem Rüebliland eine solche Prophetie zugetraut?


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