Ich verbrachte knapp vier Wochen in stationärer Akutpsychiatrie, weil ich den Lebenswunsch verloren hatte. Heute, fast zwei Jahre danach, geht es mir besser denn je, ich habe mit mir und der Vergangenheit Frieden geschlossen.
Der Ambulanzbus fährt an diesem tristen Januarmontag ohne Blaulicht und Sirene durch die klirrend kalte Nacht. Der Bus ist ein Personentransportwagen ohne Patientenliege, ich fühle mich an einen Flughafentransfer erinnert. Hinten rechts sitze ich, schräg links vor mir die nette Begleitfrau, die sich alle paar Minuten zu mir umdreht und mich fragt, ob es denn gehe. «Ja, danke», sage ich dann und versuche zu lächeln. Ich habe keine Ahnung, wo sich dieses Dorf im Welschland befindet, in dessen Psychiatriezentrum ich gerade gebracht werde. Es kümmert mich auch nicht, nichts kümmert mich mehr. Ich bin müde, bleischwer. Mein Kopf ist noch immer etwas vernebelt; die letzten Wochen hatte ich genug gekifft, um nichts mehr fühlen zu müssen.
Check-in
Der Eingang des dreistöckigen Gebäudes ist unbeleuchtet und verschlossen. Ich kann nicht viel erkennen, versuche es auch gar nicht erst. Die nette Begleitfrau klingelt. Nichts regt sich. Sie klingelt erneut. Einige Minuten vergehen, bis sich jemand über die Gegensprechanlage blechern und knackend meldet. Französisch hat sogar so noch einen lieblichen Klang, denke ich mir. Und bin froh, irgendwo angekommen zu sein, wo ich bleiben darf, wo ich sicher bin, wo mir nun hoffentlich endlich jemand hilft, den Schatten abzuschütteln. Fast sieben Stunden ist es jetzt her, seit ich mich im Notfall in Bern wegen Suizidabsichten gemeldet hatte.
Wir fahren mit dem Lift in den zweiten Stock. An der Stationstüre muss nochmals geklingelt werden, hier ist die geschlossene Abteilung. Ein blonder, unrasierter Romand Mitte zwanzig öffnet. Ich darf mich im sehr hellen Empfangsbereich hinsetzen, bis der Papierkram geregelt ist. Es riecht streng nach Desinfektionsmitteln. Und ganz still ist es. Ob um 22 Uhr schon alle schlafen? Im Korridor zu meiner Rechten taucht eine Frau auf, etwa in meinem Alter. Sie trägt weite, wild gemusterte Ethnokleider, keine Schuhe, hat einen Kopfhörer auf und tänzelt zur Musik über das ockergelbe, spiegelnde Linoleum. Als sie mich sieht, kommt sie auf mich zu. Wir reden, ich habe vergessen worüber; vermutlich fragt sie mich, ob ich eben angekommen sei.
Der Ambulanzfahrer und die nette Begleitfrau kommen aus dem verglasten Grossraumbüro gegenüber des Empfangsbereichs, verabschieden sich von mir und wünschen alles Gute. Der junge Romand und eine noch jüngere Kollegin sind mit dabei, sie holen mich ab fürs Eintrittsgespräch. Ich versuche, trotz Müdigkeit alle Fragen genau und ausführlich zu beantworten. Danach bringt mich der Blonde den linken Korridor entlang auf mein Zimmer. Im Bett beim Fenster liegt schon jemand, er setzt sich kurz auf und sagt «hallo». Ich habe kein Gepäck dabei, also lege ich mich in T-Shirt und Unterhose schlafen, Zähneputzen fällt heute flach.
Aufenthalt
Am nächsten Morgen werden wir schon um 6 Uhr geweckt, mein Zimmergenosse B. und ich müssen eine Blutprobe abgeben. Reine Routine sei das, sagt der Blonde von gestern Nacht als er mich piekt. B. kam auch erst am Vortag an, erzählt er mir dann in gebrochenem Deutsch. Wenn ich etwas bräuchte, Zigaretten oder so, solle ich es nur sagen. Er habe gesehen, dass ich ohne Gepäck gekommen sei. Ich mag B. sofort.
Ab 07:30 Uhr gibt es Frühstück: Brot mit Butter und Konfitüre, wässrigen Filterkaffee und billigen Instant-Orangensaft. Tassen und Teller sind aus Hartplastik, dazu Wegwerfbesteck. Damit wohl niemand Dummheiten macht, stelle ich mir vor. Gesprochen wird im kargen, schlecht beleuchteten Essensraum nur wenig. Etwa ein Dutzend Menschen ist da, fast alle tragen Jogginganzug. Die Morgenrunde um 08:30 Uhr verpasse ich, weil ich davon noch nichts weiss. Bis ich die Station wieder verlasse, werde ich mich meist vor der Morgenrunde drücken. Ich sehe keinen tiefen Sinn darin, einen Ball zugeworfen zu erhalten um zu verkünden, wie beschissen es mir heute geht und den Ball dann an jemanden weiterzuwerfen, dem es heute auch beschissen geht.
Irgendwann an diesem Initiationstag habe ich das erste von insgesamt nur wenigen Gesprächen mit der mir zugeteilten Psychiaterin. Sie ist gross, elegant gekleidet, vermutlich etwa zehn Jahre jünger als ich. Sie wirkt müde, leicht gestresst und etwas abwesend. Mundart versteht sie nicht, also erzähle ich meine Geschichte auf Hochdeutsch. Zum dritten Mal seit gestern Nachmittag. Die Psychiaterin möchte mir gleich Medikamente verschreiben. Zur Stabilisierung, sagt sie. Ich lehne ab, denn in nächster Zeit will ich fühlen, egal was kommt, auch wenn es weh tut. Danach frage ich mich, weshalb sie mir ohne Diagnose Pharmaka andrehen wollte. Im Verlauf meines Aufenthalts werde ich ernüchtert lernen, wie es hier leider keineswegs darum geht, Menschen zu therapieren oder gar zu heilen. Nein, es geht eigentlich bloss darum, Menschen soweit wieder auf die Füsse zu stellen, dass sie verlegt werden können, auf eine andere Station oder zu einer anderen Organisation.
Die Tage in der Akutpsychiatrie sind lang und gleichförmig, die Erlebnisdichte ist gering. Dreimal am Tag kommt das Essen, viermal werden die Pillen ausgegeben. Bis auf mich kriegen alle Medikamente, der Andrang vor der Stationsapotheke ist jeweils gross. Vormittags besteht oft die Möglichkeit, ins Fitnesscenter zu gehen. Am Nachmittag finden manchmal fakultative Gruppenaktivitäten statt (Badminton, Backen, Entspannen). Samstags und sonntags sind die Vor- und Nachmittage leer, dann wird noch mehr geraucht als sonst. Fast alle hier rauchen. Auch an Wochenenden spielt nur selten jemand Tischtennis oder Tischfussball, nimmt ein Spiel oder ein Buch aus dem Regal. Die beiden Fernseher laufen aber fast immer. Ich lese viel, unterhalte mich hin und wieder mit jemandem auf dem kalten Raucherbalkon oder bei der Sitzgruppe im Empfangsbereich.
Zu meinen Lichtblicken unter der Woche wird sich die Kunst- und Aktivierungstherapie entwickeln. Ich versuche, eine Pflanze abzuzeichnen. Später meissle und schleife ich an einem kleinen Speckstein herum. Dem Therapeuten, einem warmherzigen und einfühlsamen Deutschen, fehlt ein halber Ringfinger. Er sei gelernter Schreiner, erzählt er mal. Ich sage mit Blick auf seinen Stumpf, da hätte er sich aber offenbar gerade noch rechtzeitig umschulen lassen. Wir lachen. Es tut gut. Wenn schon leben, dann aber bitte mit Humor.
Menschen
In der Akutpsychiatrie begegnen sich Patienten meiner Erfahrung nach auf Augenhöhe. Bildungsniveau, sozialer Status - uninteressant. Konflikte gibt es kaum, kommuniziert wird offen, direkt und tabulos. Wenn die Energie reicht, ist man füreinander da, wenn nicht, lässt man sich in Ruhe. Womöglich ist das nur auf Stationen für allgemein Versicherte so, ich weiss es nicht. Aber ich erlebe weder Dünkel noch Missgunst. Wir sind alle so ziemlich am Ende, es kann nur noch besser werden. Wir wollen einfach nur wieder glücklich werden, mehr verlangen wir gar nicht, weniger auch nicht. In meinen knapp vier Wochen durfte ich viele Menschen und ihre Schicksale kennenlernen. Nahezu alle diese Menschen waren arbeitslos oder lebten bereits von Sozialhilfe. Ich frage mich, ob der gesellschaftliche Rand das Risiko psychischer Erkrankungen erhöht, oder ob umgekehrt diese Krankheiten eine Randständigkeit befördern.
Besonders in Erinnerung bleiben mir:
C., eine etwas füllige, gepflegte Frau um die 50, auch sie wollte nicht mehr weiterleben. Sie scheint mich zu mögen, ich gehe manchmal mit ihr einen Cappuccino trinken, weil sie die Station nicht alleine verlassen darf. C. hatte es nicht leicht: Scheidung, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe. Sie weint oft und entschuldigt sich dafür.
A., eine burschikose Frau um die 30, leidet an Borderline und isst, wenn sie einen Schub hat, Magnete, Glühbirnen oder Rasierklingen. Ihre Unterarme sind fingerdick vernarbt. Sie ist bald zum fünfzigsten Mal hier auf der Station. Untherapierbar, sagt sie lächelnd. Wir reden oft über Fantasyfilme, die wir beide mögen.
R., ein Schrank von Mann um die 30; von ihm wird gemunkelt, er habe ein Gewaltproblem. R. kriegt allem Anschein nach eine sehr hohe Medikamentendosis. Viel Zeit verbringt er im Zimmer und schläft. Ansonsten steht oder sitzt er irgendwo mit glasigem Blick, manchmal läuft ihm Speichel aus dem Mundwinkel.
T., ein verwahrloster Mann um die 40, Alkoholiker und Sozialhilfebezüger. Weil er eine zu grosse Hose und keinen Gurt hat, schenke ich ihm unüberlegt meinen. Über Facebook hat T. eine Frau von den Philippinen kennengelernt, die er mitsamt Kindern in die Schweiz holen will, damit alle von Sozialhilfe leben können.
F., ein modisch-jung gekleideter Mann knapp vor 30 mit schlechten Zähnen. Es ist etwa sein zwanzigster Aufenthalt, weil er nicht vom Kokainfixen wegkommt. Die Arme sind übersät mit Einstichnarben. Seine Eltern geben ihn trotzdem nicht auf. Er hat ein beeindruckendes Allgemeinwissen und liebt Hip-Hop.
Check-out
Am zehnten Tag gehe ich zum Badminton, weil ich wieder einigermassen auf der Höhe bin und weiss, dass mir Bewegung guttut. Plötzlich knackt es laut in der rechten Wade als sei ein Ast gebrochen. Die Schmerzen sind übel. Mir ist sofort klar: Bye-bye Achillessehne. Meine Psychiaterin sieht es anders, ich vertraue ihr. Eine Woche später fahre ich mit dem Bus ins nächste Spital. Ich kriege nun die richtige Diagnose, aber eine falsche Behandlung. Wieder eine Woche später verlasse ich die Station an einem sonnigen Donnerstag endgültig. Ich werde meine Achillessehne operieren lassen müssen und danach in ein psychiatrisches Ambulatorium gehen, Reha für Körper und Geist. Auf den Wiesen liegt noch reichlich Schnee an diesem 14. Februar, der Himmel ist strahlend blau. F. steht oben auf dem Raucherbalkon und winkt mir zum Abschied. Ich winke zurück.
Ja, natürlich, der Titel ist eine Reverenz an "Einer flog über das Kuckucksnest".
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