Mastodon SARS-CoV-2: Viraler Spaltpilz (Teil 4)
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SARS-CoV-2: Viraler Spaltpilz (Teil 4)

Aktualisiert: 14. Juli 2021

Ein sehr geschätzter Leser - und jeder verbosus-Leser ist sehr geschätzt, nur zum Sagen, wir haben eine egalitäre Veranstaltung hier - hat mich kürzlich in einem früheren Beitrag zu SARS-CoV-2 zu einem aktuellen Update angeregt. Bitte, das hier ist für Dich, Andy.

Bild: Pixabay.com (geralt)





Rückblick

Mein letzter Beitrag zum Thema SARS-CoV-2 datiert vom 16. November 2020. Damals hatte ich mich zur Durchseuchung geäussert, die zu fordern sich einige Pappenheimer selbst auf dem Höhepunkt der zweiten Welle nicht zu entblöden vermochten. Doch was ist seit dem letzten Herbst hierzulande und weltweit in Sachen Pandemie eigentlich so alles passiert?


Die Schweiz erlebte ab Oktober 2020 die zweite Welle - und im Vergleich zu ersten Welle im Frühjahr war sie ein wahrer Brecher, etwa 8'000 Menschen starben darin. Der Bundesrat reagierte nach einer deutlichen Warnung der Task Force wie schon in früheren Phasen der Pandemie mit etwas Verzögerung. Er verstärkte ab Mitte Oktober die Massnahmen drastisch und legte kurz darauf nochmals nach.


Im Anschluss stiegen die Fallzahlen noch für etwa drei Wochen rasant weiter an (auf ca. 8'000 Fälle pro Tag), halbierten sich dann jedoch innerhalb eines Monats und verharrten mehr oder weniger den ganzen Dezember über auf hohem Niveau (um die 4'000 Fälle pro Tag). Der Bundesrat verschärfte deshalb die Massnahmen im Dezember und Januar nochmals, u.a. mit einer allgemeinen Home Office-Pflicht.


Innerhalb der ersten beiden Monate des Jahres 2021 fielen die Fallzahlen kontinuierlich auf noch etwa 1'000 pro Tag. Aber neues Ungemach drohte: Die erstmals Ende 2020 in der Schweiz nachgewiesene Virusmutante B.1.1.7 (neuerdings als "Alpha"-Variante bezeichnet, nicht mehr als "britische") übernahm das Ansteckungsruder und die Task Force warnte schon Ende Januar vor einer möglichen dritten Welle.


Diese dritte Welle traf zwar prognosegemäss ein, jedoch nicht mit der erwarteten Wucht, weshalb der Bundesrat die geplante schrittweise Lockerung der Eindämmungsmassnahmen ab März 2021 initiierte. Bis zum heutigen Tage ist eine kontinuierliche Abnahme der täglichen Neuinfektionen und Todesfälle zu beobachten, sodass per 26. Juni 2021 die meisten Massnahmen gelockert bzw. aufgehoben werden.


Hier noch etwas Bildmaterial. Zunächst die täglich bestätigten Neuinfektionen als 7-Tage-Durchschnitt:


Dann die täglich bestätigten Todesfälle, ebenfalls als 7-Tage-Durchschnitt:


Zuletzt noch der Impffortschritt (Anteil mindestens einmalig geimpfter Personen an Gesamtbevölkerung):




Forschungsstand

Über die Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 wurde und wird heftig debattiert, wobei die Debatte ähnliche Merkmale aufweist wie beim Klimawandel: Jene, die sich für ihre Meinungsbildung auf Fakten beziehen, orientieren sich am wissenschaftlichen Konsens. Und jene, denen die Verteidigung ihrer Meinung weit wichtiger ist als Fakten, betreiben Rosinenpickerei und berufen sich auf genau die Studie, die ihre Meinung stützt - selbst wenn diese Studie erhebliche methodische Mängel aufweist und/oder von nahezu allen anderen Forschenden heftig kritisiert wird. Oder sie machen sich die Mühe nicht mal und stellen aus der Luft gegriffene Behauptungen auf. Wie dem auch sei; wir sind bei verbosus.ch und hier orientieren wir uns an den Tatsachen, ergo wird nun der konsensuale Forschungsstand erläutert.


Die Infektionssterblichkeit (IFR) des Virus ist zwar noch immer nicht genau bestimmt, die aktuelle Mehrheitsmeinung lautet aber auf 0.4 bis 0.8%, d.h. im Mittel sterben eine bis zwei von 200 infizierten Personen an den Folgen der Ansteckung. Die Mortalität liegt bei jungen Menschen nahe null und steigt mit zunehmendem Alter stark an auf Werte jenseits von 20% bei über 80-Jährigen.


Die Symptomatik von COVID-19 ist ausgesprochen vielfältig und reicht von "asymptomatisch" über "grippeähnlich" über "ab ins Spital" über "Schlauch im Hals" bis hin zu "ruhe in Frieden" (siehe vorigen Absatz). Ungefähr 10% aller Infizierten müssen hospitalisiert werden, davon wiederum landet etwa ein Siebtel bis ein Drittel auf der Intensivstation und benötigt mechanische Beatmung.


Weiterhin ungeklärt sind die Langzeitfolgen ("Long COVID") einer Erkrankung, und zwar hinsichtlich des Krankheitsbildes als auch bezüglich der Häufigkeit des Auftretens. Derzeit wird davon ausgegangen, dass Spätfolgen bei zwischen zehn und zwanzig Prozent aller Erkrankten auftreten, d.h. auch bei milden Verläufen, und sich diese Folgen i.d.R. länger als vier bis weit über zwölf Wochen hinziehen können.


Zusammengefasst: Wer COVID-19 punkto Gefährlichkeit mit einer Grippe gleichsetzt oder als nicht viel schlimmer bezeichnet, lag und liegt rotzfalsch. Aber das wissen wir ja schon seit etwa einem Jahr. Zu unserem sehr grossen Glück ist SARS-CoV-2 kein Erreger der Kategorie "Massenvernichtungswaffe" wie z.B. das Ebolavirus mit einer Todesrate zwischen 25 und 90%. Schön ist es trotzdem nicht. Der aktuelle wissenschaftliche Konsens beurteilt SARS-CoV-2 als um den Faktor 5 bis 10 gefährlicher als das Grippevirus (Influenza) - nur bezogen auf die Infektionssterblichkeit.




Strategie

Zum ersten grossen Zankapfel mauserte sich im Frühjahr 2020 die vom Bundesrat eingeschlagene Strategie zur Bewältigung der Pandemie, die Eindämmung. Die Bevölkerung spaltete sich (nicht bloss in der Schweiz) vereinfacht ausgedrückt in zwei Lager, die Eindämmer und die Durchseucher:

  • Die Eindämmer waren der Meinung, es sei verfassungs-/gesetzeswidrig und nicht zuletzt auch moralisch falsch, die Bevölkerung diesem Virus einfach auszusetzen, weil dadurch zahlreiche Menschen vermeidbar in ihrer Gesundheit, ja gar ihrem Leben bedroht würden. Sie befürworteten daher im Grundsatz die Eindämmungsmassnahmen resp. die eingeschlagene Strategie.

  • Die Durchseucher hingegen waren der Auffassung, die Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 vermöge die Anordnung von Massnahmen nicht angemessen zu begründen. Diese Anordnungen seien völlig unverhältnismässige Eingriffe in die verfassungsmässig garantierten Grundrechte und man solle die Pandemiebekämpfung in die eigenverantwortlichen Hände der Bevölkerung legen.

Hardcore-Durchseucher müssen bereit sein, mit einer unkontrollierbaren Epidemie für die Schweiz mehrere Zehntausend Todesopfer und eine unbestimmbare Zahl von Erkrankungen mit Spätfolgen in Kauf zu nehmen. Das sind die unausweichlichen Konsequenzen dieser Strategie, sie ergeben sich notwendig aus den Parametern des Virus. Für diese buchstäblich kranke und tödliche Bereitschaft sollte man sehr starke und sehr gute Gründe haben, aber solche Gründe sind bis heute nicht mal im Ansatz erkennbar. Für Softcore-Durchseucher (das sind jene mit der "differenzierten" Durchseuchung) gilt dasselbe, hier wären wohl bloss die Opferzahlen ein wenig tiefer.


Bisweilen wurden aus diesem Lager Gründe genannt wie "der Tod gehört nun mal zum Leben" oder "so ist halt die Natur" oder "die Alten wären ohnehin bald gestorben", aber selbstverständlich handelt es sich dabei weniger um Gründe, die diesen Namen verdienen, als vielmehr um den unbedarften Versuch, die eigene Unmoral zu naturalisieren. Darüber hinaus ist fraglich, wie mit einer solchen Geisteshaltung überhaupt für ein lebenserhaltendes und dergestalt "unnatürliches" Gesundheitswesen votiert werden kann. Ein Gesundheitswesen nota bene, dessen Überlastung in einer Durchseuchungsstrategie so sicher ist wie der Umstand, dass auf Alain Bersets Fleischkappe nie wieder ein Haar spriessen wird.


Als Gegenpol zur Durchseuchung ist das "epidemiologische Ideal" einer Pandemiebewältigung natürlich völlig illusorisch: Es ist schlicht unmöglich, in einer offenen Gesellschaft unserer globalisierten Welt alle Kontakte zu unterbinden, um dem Virus die Wirte zu entziehen und es damit auszurotten. Folglich führt an einer wie auch immer gearteten Eindämmung nicht bloss im Ausschlussverfahren, sondern auch in einer auf Vernunft und Moral gründenden Argumentationslogik kein Weg vorbei.


In einer Eindämmungsstrategie werden zwei Ziele verfolgt: Schutz von Gesundheit und Leben sowie Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems und mithin einer Triage. Beide Ziele sollen mit möglichst wenigen Einschränkungen und Kollateralschäden erreicht werden, sodass eine hochkomplexe Güterabwägung zwischen Gesundheit, Wirtschaft und öffentlichem Leben erforderlich ist.


Die Gretchenfrage ist infolgedessen, d.h. weil Eindämmung alternativlos ist und bleibt, mit welchen Massnahmen man eindämmt, und ob man die Einhaltung resp. Umsetzung dieser Massnahmen gesetzlich vorschreibt oder (ganz oder teilweise) der Eigenverantwortung der Bevölkerung überlässt. Aber da sind wir dann bereits von der Strategie in die Taktik abgedriftet, also auf zum nächsten Kapitel.




Taktik

An Eindämmungsmassnahmen stehen im Wesentlichen diese drei Kategorien zur Verfügung:

  1. Reduktion von Kontakten: Grenzschliessungen, Home Office, Fernunterricht, Shut- / Lockdowns, Kapazitätsbeschränkungen, Versammlungsverbote, (Massen-) Tests, Isolation / Quarantäne, Covid-Zertifikat, Ausgangssperren usw.

  2. Schutz während Kontakten: Schutzmasken, Social Distancing, Lüftung usw. sowie Impfungen

  3. Kontaktverfolgung: Contact Tracing zur Erkennung und Unterbrechung von Infektionsketten

Aus epidemiologischer Sicht ist für ein Virus wie SARS-CoV-2 bis zum Vorliegen von Impfstoffen die Massnahmenkategorie 1 am wirksamsten, weil weniger Kontakte logischerweise zu weniger Infektionen führen. Wo Kontakte unabdingbar sind, kommen die Kategorien 2 sowie ergänzend noch 3 zum Tragen. In der Schweiz wurde und wird bis auf Ausgangssperren nahezu die gesamte verfügbare Bandbreite an Massnahmen eingesetzt und auch weitestgehend von den Exekutiven angeordnet.


Auf dem Baum dieser Anordnungen wuchs der zweite grosse Zankapfel heran: Kreise aus dem politisch rechten bis sehr rechten Spektrum, hierzulande allen voran die SVP, sowie eine bunt gemischte Truppe aus u.a. Impfgegnern, Esoterikern und Verschwörungstheoretikern begannen, gegen die Massnahmen Stunk zu machen. Ein grosses Buhei wurde veranstaltet, dem Bundesrat unterstellte man diktatorisches Gehabe, und schon anfangs Mai 2020 wurde erstmals illegal gegen die Massnahmen demonstriert.


Die juristische Situation ist jedoch einigermassen klar: Der Bundesrat handelte verfassungskonform in Notrecht und auf Basis des vom Volk beschlossenen Epidemiengesetzes. Unbestritten ist, dass einige Grundrechte eingeschränkt worden waren, doch diese Einschränkungen erfolgten zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gemäss Art. 118 der Bundesverfassung. Gleichwohl ist die Frage erlaubt, ob die Pandemie auch ohne "von oben" diktierte Massnahmen wirksam hätte bekämpft werden können.


Selbsternannte "Skeptiker" bezweifelten aber teilweise auch ganz grundsätzlich die Wirksamkeit der Eindämmungsmassnahmen resp. forderten wissenschaftliche Belege für deren Wirksamkeit. Dieser Beweis kann jedoch insbesondere für die Massnahmenkategorie 1 (Reduktion von Kontakten) nicht zweifelsfrei geführt werden, weil nun mal im Labor die zwei dafür je nötigen Situationen (z.B. "Schweiz mit Lockdown" und "Schweiz ohne Lockdown") nicht herstellbar sind. Im Labor gut prüfbar sind hingegen die Massnahmen der Kategorie 2 (Schutz während Kontakten) wie u.a. die Schutzwirkung von Mund-Nasen-Bedeckungen und Social Distancing sowie der Einfluss von Aerosolen und Lüftungen etc.


Die Wirksamkeit einer Kontaktreduktion ergibt sich aber einerseits aus den Übertragungsmechanismen einer Infektionskrankheit logisch und statistisch zwingend, und deckt sich auch mit gesunder Intuition: Mehr ungeschützte Kontakte führen nun mal zu mehr Ansteckungen und vice versa. Andererseits lieferten Auswertungen von Handydaten ein gutes Bild über das Mobilitätsverhalten der Bevölkerung, sie zeigten eine hohe Korrelation mit der Anordnung der Massnahmen und den Fallzahlen.


Dass die Massnahmen wirksam waren, steht also völlig ausser Frage. Unbeantwortbar bleibt jedoch, in welchem genauen Ausmass, und unbeantwortet bleibt auch, ob sich diese Wirksamkeit auch dann in ähnlichem Umfang eingestellt hätte, wenn die Massnahmen nicht angeordnet, sondern bloss empfohlen worden wären. Ich versuche im folgenden Kapitel dennoch, Antworten zu geben.




What if?

Tja, sorry, man kann einfach prinzipiell nicht wissen, wie sich die Pandemie in der Schweiz entwickelt hätte, wären die Massnahmen nur empfohlen worden. Also doch keine Antwort? Nun: Ländervergleiche sind halt auch hier nur begrenzt aussagekräftig, da sich die relevanten Parameter teilweise sehr stark unterscheiden (Geografie, Bevölkerungsdichte, Demografie, Zeitpunkt des Ausbruchs, Reaktionszeit, Information, Gesundheitswesen, Wohlstand bzw. Armutsquote, Klima, Sitten und Gebräuche etc.).


Eine Tendenz ist jedoch dahingehend erkennbar, dass Länder mit wenig stringentem Vorgehen (wenige oder nur empfohlene Massnahmen) und/oder einer die Gefahr verharmlosenden, rechtspopulistischen Regierung (u.a. Ungarn, Tschechien, Brasilien, Grossbritannien, USA) am härtesten von der Pandemie getroffen wurden. Für diese Aussage stelle ich auf die Infektionen und Todesfälle im Verhältnis zur jeweiligen Bevölkerung ab. Hinzu kommt, dass die gefährlichen Virusvarianten in eben gerade diesen Ländern ihren Ursprung hatten: Die Alpha-Variante (B.1.1.7) wurde erstmals in Grossbritannien nachgewiesen, die Delta-Variante (B.1.617) in Indien und die Gamma-Variante (P.1) in Brasilien.


Gegen die These einer wirksamen Pandemiebekämpfung ohne angeordnete Massnahmen spricht auch die Entwicklung im Sommer 2020: Nach dem Abflachen der ersten Welle wurden die Massnahmen in vielen Ländern stark gelockert, gleichzeitig aber eindringlich vor einer zweiten Welle im Herbst gewarnt. Die zweite Welle traf dennoch allenthalben mit voller Wucht ein, sodass die Massnahmen wieder verschärft werden mussten, was den Schluss zulässt, dass es mit der Eigenverantwortung der Bevölkerungen in Sachen Pandemiebekämpfung leider nicht allzu weit her ist, denn bei sorgfältiger Befolgung auch nur der elementaren Massnahmen hätte keine derartige zweite Welle resultieren dürfen.


Das oft vorgebrachte Gegenbeispiel Schweden mit seiner vermeintlich relativ liberalen Vorgehensweise hatte im Übrigen gemäss "Government Stringency Index" von "Our World in Data" über nahezu die gesamte Dauer der Pandemie strengere Massnahmen als die Schweiz, aber sie hatten dort weitgehend lediglich empfehlenden Charakter. Schweden weist um 33% höhere Fallzahlen und eine um 15% höhere Todesrate im Verhältnis zur Bevölkerung auf, was ebenfalls auf eine bessere Wirksamkeit angeordneter und nicht nur empfohlener Massnahmen hindeutet.


Kurzum: Es ist zwar denkbar, dass die Pandemie auch ohne angeordnete Massnahmen wirksam hätte bekämpft werden können. Aber es ist wenig wahrscheinlich. Und es gibt auch keinerlei Belege dafür, dass die wirtschaftlichen und sozialen Kollateralschäden geringer ausgefallen wären, wenn man die Massnahmen nur empfohlen und nicht angeordnet hätte. Womöglich sind diese teilweise tragischen Kollateralschäden auch schlicht und ergreifend der Pandemie an sich geschuldet und es besteht kein oder nur ein sehr geringer Zusammenhang zu den Massnahmen. Eine Pandemie ist nun mal per se keine besonders angenehme Erfahrung, die so oder so zu Verhaltensänderungen führt.




Fazit

Zunächst lässt sich feststellen, dass an der schon zu Beginn eingeschlagenen Eindämmungsstrategie kein vernünftig begründbarer Weg vorbeiführte. Es lässt sich auch sagen, dass der Lockdown im März 2020 gemessen am damaligen (Un-) Wissensstand zweifellos nötig war, obschon ihn der Bundesrat zwei bis drei Wochen zu spät verhängt hatte. Dasselbe trifft auf die zweite Welle zu: Auch hier reagierte der Bundesrat zwei bis drei Wochen zu spät. Dieses Zaudern kostete viele Menschenleben und verlängerte die Lockdowns.


Mit Blick auf die angeordneten Massnahmen ist das Bild etwas weniger klar. Wiewohl die Massnahmen insgesamt betrachtet höchstwahrscheinlich in Summe sinnvoll und verhältnismässig waren - und dazu zählen auch die fiskalischen Massnahmen zur Abfederung wirtschaftlicher Einbussen -, so sind gewisse Kritikpunkte nicht von der Hand zu weisen. Einerseits wurden Massnahmen wie die Maskenpflicht im Freien aufrecht erhalten, obschon man relativ früh wusste, dass diese einen verschwindend geringen Beitrag zur Pandemiebekämpfung leisten. Andererseits hätten gewisse Freiheiten gar nicht oder in geringerem Ausmass oder nur für spezifische Bevölkerungsgruppen eingeschränkt werden müssen.


Schulschliessungen oder eine Maskenpflicht an Schulen wären wohl nicht unbedingt erforderlich gewesen, das zeichnete sich bereits im Herbst 2020 ziemlich klar ab. Mit einer klugen Kombination aus Tests vorher/nachher, evtl. Quarantäne und lokalem Contact Tracing (z.B. Armbänder) wären zudem diverse Freizeitaktivitäten möglich gewesen, ohne dass man eine substanziell höhere Inzidenz hätte befürchten müssen. Den Exekutiven ist also der Vorwurf zu machen, dass zu wenig unternommen worden war, um die Datenlage hinsichtlich der Massnahmen zu verbessern, massgeschneiderte Alternativen auszuloten und dadurch die Beschränkungen der Grundrechte zu reduzieren. Auch ist der Vorwurf berechtigt, dass allgemein zu wenig für die Abfederung von Kollateralschäden getan worden ist.


Ich weiss nicht, ob es angemessen ist zu schreiben, dass die Schweiz in einer Gesamtbetrachtung bislang aber trotz aller Kritik vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen ist. Wir reden hier ja immerhin von über 700'000 Infektionen, gegen 11'000 Toten und einer noch unbestimmten Zahl von Hospitalisierungen und Menschen, die mit Langzeitfolgen zu kämpfen haben. Man hätte jeweils früher auf die Warnungen der wissenschaftlichen Task Force reagieren sollen und man hätte punktuell eine weniger einschneidende Feinabstimmung der Massnahmen wählen können, aber ansonsten sehe ich nur wenig Verbesserungspotenzial. Der Bundesrat kriegt von mir jedenfalls die Gesamtnote 5.




Ausblick

Dieser Tage zeichnet sich bereits ab, dass die Delta-Mutante des Virus sich durchzusetzen und zur dominierenden Variante zu werden scheint. Die hierzulande eingesetzten Impfstoffe wirken jedoch offenbar auch gegen diese Variante, weshalb nun quasi der letzte Wettlauf eingeläutet ist. In der Schweiz sind gegenwärtig gut 32% der Menschen doppelt und weitere knapp 17% einfach geimpft.


Die ab dem 26. Juni 2021 geltenden Lockerungen sind daher sozusagen eine mutige Gratwanderung, die aber eine ziemlich hohe Erfolgschance hat, denn:

  1. Die aktuelle Inzidenz ist mit ungefähr 100 Neuinfektionen pro Tag sehr tief.

  2. Gegen 10% der Bevölkerung (vermutlich deutlich mehr) sind von einer Infektion genesen.

  3. Bald 50% der Bevölkerung sind bereits mindestens einmalig geimpft.

  4. Die primären Risikogruppen sind mehr oder weniger vollständig und doppelt geimpft.

  5. Bis etwa Ende August sollten alle Impfwilligen doppelt geimpft sein.

  6. Das Covid-Zertifikat wird Ansteckungen verhindern.

  7. Es ist Sommer, das Virus mag den Sommer nicht.

Die noch ungeimpfte Hälfte der Bevölkerung setzt sich zusammen aus etwa einem Drittel Kinder und Jugendlichen (ca. 1.4 Millionen) und gegen 400'000 Menschen mit Immunschwäche oder Allergien, die sich nicht impfen lassen können oder durch eine Impfung nicht wirksam geschützt werden. Den Rest machen jene Personen aus, die sich voraussichtlich gegen eine Impfung entscheiden werden (gemäss Schätzung der Task Force eine bis zwei Millionen Menschen).


Um Kinder und Jugendliche wirksam zu schützen, bis auch für sie die Impfstoffe zugelassen sind, sollten gemäss Task Force weiterhin Massnahmen inkl. Massentests an Schulen eingesetzt werden. Ein sicher sinnvolles Vorgehen, um eine Durchseuchung dieser Bevölkerungsgruppe zu verhindern, die trotz deren geringer Gefährdung ansonsten viele Erkrankungen und sogar vereinzelte Todesfälle zu verzeichnen hätte - auch und gerade vor dem Hintergrund der noch wenig bekannten Delta-Variante.


Jene 15 bis 30% der Bevölkerung, die sich impfen lassen könnten, dies aber nicht wollen, werden mit ihrem Verhalten voraussichtlich bewirken, dass sich im weiteren Verlauf des Jahres wieder gewisse epidemische Wellen auftürmen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Wellen klein und lokal begrenzt bleiben, sodass sich die Exekutiven nicht nochmals genötigt sehen Massnahmen anzuordnen, um eine Überlastung des Gesundheitswesen zu verhindern, dessen Angestellten nach bald eineinhalb Jahren im Krisenmodus langsam die Puste auszugehen droht.


Die Hauptaufgabe wird nun darin bestehen, die Datenlage bezüglich der Impfstoffe zu verbessern: Wie lange und wie gut wirken sie je nach Alter und/oder anderen Merkmalen, wann muss eine Auffrischung erfolgen (am 25. Juni 2021 informierte die Task Force, man erwarte einen Impfschutz für bis zu 36 Monate). Zudem wird ein weltweit fortgeführtes Monitoring des Virus und seiner Varianten aufrecht erhalten bleiben müssen, damit etwaige den Impfschutz umgehende Mutanten frühzeitig erkannt und die Vakzine daran angepasst werden können. Und jedes Land wird weiterhin die Inzidenzen verfolgen.


Ich würde für die Schweiz erwarten, dass spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem alle Impfwilligen den vollen Impfschutz haben, sämtliche dannzumal noch bestehenden Massnahmen aufgehoben werden und das Covid-Zertifikat wenn überhaupt, dann bloss noch für Auslandsreisen erforderlich ist. Zu diesem Zeitpunkt sollten auch die ohnehin wenig gefährdeten Kinder und Jugendlichen ganz oder teilweise geimpft sowie die gegen 400'000 "Unimpfbaren" durch tiefe Inzidenzen und eine Herdenimmunität aus Geimpften und "natürlich Durchgeseuchten" angemessen geschützt sein. Allerspätestens dann werden sich Grundrechtseingriffe nicht mehr angemessen begründen lassen - sofern in der Zwischenzeit nicht noch etwas völlig Unerwartetes wie eine die Impfung umgehende Virusvariante auftreten sollte.




What else?

Zum Abschluss noch ein paar allgemeinere Worte. Die Weltgemeinschaft hat leider grossmehrheitlich versagt, eine globale Gefahr als solche zu erkennen und gemeinsam zu bekämpfen. Die meisten Länder verfolgten ihre jeweiligen Eigeninteressen, aber das kennen wir ja bereits vom Klimawandel. Am deutlichsten zeigte sich dieses Versagen darin, dass sich reiche Länder die verfügbaren Impfstoffe sicherten und ärmere Länder mehr oder weniger leer ausgingen. Nun werden gewisse Chargen gespendet und man kann sich als grosse Wohltäter inszenieren. Und das kennen wir ja bereits aus der Geschichte: Zuerst kolonialisieren und ausbeuten, dann Entwicklungshilfe leisten und sich abfeiern.


Die Pandemie hat die ärmsten Länder am härtesten getroffen und auch in reichen Ländern bestehende soziale Ungleichheiten verstärkt; hier waren die ärmeren Bevölkerungsschichten sowohl direkt durch Krankheit und Tod als auch indirekt durch Jobverlust überdurchschnittlich stark betroffen. Ein klares Indiz für die Ungerechtigkeit der aktuellen Ressourcenverteilung. Wie viele Indizien brauchen wir noch, bis wir endlich kapieren, dass es uns allen mit Kooperation deutlich besser ginge als mit Konkurrenz?


Die Corona-Krise spülte auch eine alles andere als banale Frage an die Oberfläche: Wie gefährlich muss eine Bedrohung wie z.B. eine Infektionskrankheit sein, damit eine Gesellschaft übereinkommt, dagegen Massnahmen zu ergreifen? Bei der saisonalen Grippe nehmen wir jedes Jahr viele Tausend Erkrankungen quasi billigend in Kauf, teils ebenfalls mit Langzeitfolgen, und je nach Heftigkeit der Grippewelle auch mehrere Hundert bis Tausend Tote. Es liegt zwar sehr klar auf der Hand, dass die von SARS-CoV-2 ausgehende Gefahr das entschiedene Einschreiten der Regierungen rechtfertigte - aber wo liegt eigentlich die Grenze und weshalb ziehen wir die Grenze genau dort?


Ich habe darauf keine schlüssige Antwort. Ich weiss nur, dass die Menschheit das Risiko von Pandemien reduzieren könnte, wenn sie ihre Lebensweise etwas anpasste. Die meisten Infektionskrankheiten sind nun mal Zoonosen, d.h. von Tieren auf Menschen übertragene Erreger, und die Häufigkeit und Gefährlichkeit von Zoonosen wären insbesondere dadurch limitierbar, dass wir weniger Raubbau an der Natur betreiben, weniger Massentierhaltung machen und folglich auch weniger Fleisch konsumieren. Damit wäre auch dem Klima sehr gedient.


PS: So okay, Andy? :-)


 

Quellen (u.a.):

nachschlag

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