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Zum Irrweg des Friedrich N.

Aktualisiert: 9. Dez. 2023

Yours truly belegte kürzlich an seinem Ethik-Studiengang ein Lektüre-Modul über das Werk "Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift" von Friedrich Nietzsche. Viele Menschen würden den Text wohl nur schon des Titels halber nie lesen. Das ist absolut verständlich und entschuldbar, man erleidet dadurch auch keinen grossen Verlust. Die raison d'être dieses Beitrags: Der hohe Empörungswert des Werks.


Bild: Pixabay.com (OptenClipart-Vectors)





Europa

Zunächst ein paar einleitende Worte zum historischen Hintergrund, vor dem das Werk entstand. Ich meine, dass dieser Hintergrund nicht wenige Gedankengänge von Nietzsche entscheidend mitprägte, wodurch sie sich allenfalls etwas besser ein- und zuordnen lassen. Nun denn:


Ab 1792 gab man sich in den Koalitionskriegen in Europa tüchtig aufs Maul, weil die Herrschenden die Werte und Ideen der Aufklärung nicht so richtig attraktiv fanden und gar wenig Sympathien für die Französische Revolution hegten. Bürger- und Menschenrechte? Gemeinwohl? Abkehr von der Religion und Zuwendung zur Naturwissenschaft? Fertig mit feudal-absolutistischen Ständestaaten?


"Nö, nicht mit uns", fanden die meisten Herrscher. "Äh, sicher doch", fanden aber die Franzosen, also suchten sie die Meinungsverschiedenheiten mit guter alter Gewalt beizulegen. Und weil die Differenzen halt relativ gravierend waren, dauerten auch die Koalitionskriege lange - von 1792 bis 1815.


Anno 1812 hatte Kaiser Napoleon die nicht ganz so tolle Idee eines Russlandfeldzuges, von da an ging's mit seiner Herrlichkeit steil bergab. Zumindest war er so clever gewesen, die metaphorische Temperatur seines Streifzugs gen Moskau konstant zu halten, indem er seine Heerscharen in den Sommermonaten auf verbrannter Erde verheizte. Die Nazis unternahmen ihren eigenen, noch weniger erfolgreichen Trip nach Osten ja bekanntermassen nicht besonders zweckdienlich im Winter.


Wie dem auch sei. Frankreich wurde 1815 nahe Waterloo geschlagen (das ist ein Ort in Belgien, aber man kann sich jetzt natürlich gerne ein Weilchen mit dem ABBA-Ohrwurm rumplagen) und Ex-Kaiser Napoleon durfte seine letzten paar Jahre in Verbannung verleben, in einem milden Russlandfeldzug-Gedächtnis-Klima auf St. Helena.


In Europa kehrte anschliessend bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, abgesehen von diversem rein innenpolitischen Gezänk (Bürgerkriege, Revolutionen), fast so etwas wie Frieden ein. Die meisten Länder waren mit der Rekonstruktion ihre traditionellen feudalen Gesellschaftsordnungen beschäftigt.


Ab 1846 flutete jedoch eine Revolutionswelle den Kontinent, der Pöbel forderte politische Teilhabe und dergleichen progressiven Kram mehr. Der Adel schaltete zunächst auf stur, leitete dann aber in der zweiten Jahrhunderthälfte doch noch zahlreiche Reformen ein: Man bildete Nationalstaaten, gab sich Verfassungen, und es wurden (eingeschränkte) politische und bürgerliche Freiheiten gewährt.


Kurzum: Die feudale Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung mit einem herrschenden Adel und einem beherrschten, nicht-blaublütigen Gewürm war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Auflösung begriffen; der Übergang zur freiheitlichen Demokratie zeichnete sich je länger je klarer ab.




Nietzsche

Mit einiger Wahrscheinlichkeit beeinflusste auch Nietzsches Werdegang sein Werk, daher auch hierzu ein kurzer Abriss:


Friedrich Wilhelm Nietzsche kam 1844 als Sohn eines Pfarrers und einer Pfarrerstochter zur Welt und verliess sie 1900 kurz vor seinem 56. Geburtstag wieder. Sein Vater starb, als klein Friedrich kaum fünf Jahre alt war, und wenig später hauchte auch sein jüngerer Bruder Ludwig Joseph mit nur knapp drei Jahren sein Leben wieder aus. Bis er etwa zwölf war, lebte Nietzsche zusammen mit Mutter, Schwester, Grossmutter, zwei unverheirateten Tanten und einem Dienstmädchen in einem reinen Frauenhaushalt.


Seine schulischen Leistungen waren ausgezeichnet. Mit 16 Jahren gründeten er und zwei seiner Freunde die künstlerisch-literarische Vereinigung "Germania", und zu dieser Zeit entwickelte Nietzsche auch eine Leidenschaft für die Musik eines anderen Rassisten und Antisemiten, Richard Wagner, dem er jedoch in späteren Jahren den Rücken kehrte (an dieser Stelle bitte zumindest in Gedanken den Walkürenritt anstimmen ("ta-ta-tatta-taa-taa") und den morgendlichen Geruch von Napalm imaginieren).


Im Alter von nur gerade 24 Jahren wurde er als ausserordentlicher Professor für klassische Philologie in Gräzistik (Sprach- und Literaturwissenschaft des Altgriechischen) an die Universität Basel berufen. Der demokratische Bundesstaat Schweiz war vier Jahre jünger. Seine Professur musste Nietzsche jedoch 1879 nach nur etwa zehn Jahren aus gesundheitlichen Gründen niederlegen.


Ab seinem 45. Lebensjahr (1889) litt er unter zunehmenden psychischen Störungen, vermutlich als Spätfolge einer in jüngeren Jahren zugezogenen Syphilis, und bis zu seinem Tod bekam er schnell immer weniger und in den letzten zehn Jahren gar nichts mehr mit. Nietzsche war demnach zwar unbestreitbar hochintelligent, ein wahres Käpsele, aber eben auch buchstäblich krank im Kopf.


"Zur Genealogie der Moral" erschien im November 1887. Nur etwas mehr als ein Jahr danach wurde ihr Verfasser arbeits- und geschäftsunfähig, am 3. Januar 1889 erlitt er im italienischen Turin einen Zusammenbruch. Ich vermute daher stark, dass Nietzsche schon während der Niederschrift einen zünftigen Hau weghatte. Und ich meine das wohlwollend, denn man kann und will sich lieber nicht vorstellen, dass einer, der teilweise derart erbärmlichen Rotz schreibt, noch bei klarem Verstand war.


Womöglich sind eben der unzweifelhafte Intellekt Nietzsches und sein zweifelhafter Geisteszustand mit Gründe dafür, dass seit der Herausgabe des Werks wenig unversucht blieb, bei Nietzsche auch Gutes und Nutzbringendes herauszulesen und hineinzuinterpretieren, ihn nicht als Rassisten und Antisemiten zu sehen, sein Gedankengut nicht als zerstörerisches und Grausamkeit legitimierendes "Einmaleins des fröhlichen Herrenmenschen" zu betrachten.


Ja, es gibt ein paar Rosinen im Nietzsche-Kuchen, aber das Backwerk ist in seiner Gesamtaussage eher ungeniessbar, soviel nehme ich hier schon vorweg. Man darf jetzt aber trotzdem weiterlesen.




Werk

"Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift" fasse ich im Folgenden thematisch zusammen, indem ich die Kernaussagen von Nietzsche und weitere aus meiner Sicht relevante Gesichtspunkte erläutere und mit repräsentativen Zitaten würze (Hinweis: Die Zitate entstammen dem damaligen Original, weshalb diese Textstellen für die heutige Leserschaft etwas merkwürdig und falsch wirken können).


Zuvor muss aber wohl noch der wenig gebräuchliche Begriff "Genealogie" erklärt werden. Er entstammt dem Altgriechischen und bedeutet etwa "die Abkunft ermitteln". Nietzsche wollte darlegen, wie die Moral entstehungsgeschichtlich und psychologisch in die Welt gekommen war und was er davon hielt.


Für die Zusammenfassung gehe ich nun auf diese Themen ein, bevor dann abgerechnet wird:


 

Die Genealogie der Moral

Wenn man Nietzsche Glauben schenken mag, kam die Moral ungefähr so in die Welt: Zunächst gab es eine "vormoralische" Zeit, da war noch alles in bester Ordnung, da stand "gut" noch für die Guten und das Gute und "schlecht" für die Schlechten und das Schlechte.


Dann jedoch traten die Christen und die Juden mit ihren Religionen auf den Plan und vollzogen eine schleichend voranrückende "Umwertung der Werte". Sie verkehrten "gut" und "schlecht" ins jeweilige Gegenteil, womit die "moralische" Zeit anbrach: Plötzlich stand "gut" für das Schlechte und "schlecht" für das Gute - aus der Optik Nietzsches betrachtet. Diese "moralische" Zeit sollte die Menschheit seiner Auffassung nach aber besser endlich wieder hinter sich lassen, um in eine "aussermoralische" Ära überzutreten, die mehr oder weniger der "vormoralischen" Zeit entspricht.


Mit der Moral der "moralischen" Zeit und ihren umgewerteten Werten hatte Nietzsche seine liebe Mühe, ja eigentlich mit der Moral insgesamt, durch sie sah er den Untergang unserer Spezies befördert:


"So dass gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So dass gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre?"
 

Die Guten und die Schlechten

Für Nietzsche gab es grob gesagt zwei Kategorien von Menschen qua Geburt. Die Guten, die Herren der privilegierten Gesellschaftsschichten, das seien die hier:


"...die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten... "

Diese quasi natürliche Einteilung versuchte er auch etymologisch zu begründen, d.h. mit der Herkunft des Wortes "gut": Es liesse sich ab- respektive zurückleiten aus Begriffen wie "vornehm", "edel" (in einem ständischen Sinne, d.h. vom Adel als edlem Geschlecht), "hochgeartet", "privilegiert". Eine darauf gestützte Definition der Guten lautet bei Nietzsche:


"...(zum Beispiel im Namen Fin-Gal), das abzeichnende Wort des Adels, zuletzt der Gute, Edle, Reine, ursprünglich der Blondkopf..."

Hier vermutet die geneigte Leserschaft wohl bereits, in welche Richtung es mit der anderen Kategorie Mensch gehen wird, mit den Sklaven, den Unterprivilegierten. Das Gegenstück "schlecht" sei begrifflich nämlich gleichsam auf den gesellschaftlichen Stand zurückzuführen, denn das Wort gehe über auf "schlicht" und meine den schlichten, gemeinen Mann als Antipode des vornehmen Mannes.


"Im lateinischen malus ... könnte der gemeine Mann als der Dunkelfarbige, vor allem als der Schwarzhaarige ('hic niger est') gekennzeichnet sein, als der vorarische Insasse des italischen Bodens, der sich von der herrschend gewordenen blonden, nämlich arischen Eroberer-Rasse ... am deutlichsten abhob..."

Aber er sah als Schlechte, Schwache nicht bloss eine seiner Auffassung nach "falsche" Rasse, sondern den gesamten nicht dem Adel zuzurechnenden gemeinen Pöbel. Diesen aus Sicht Nietzsches garstigen, menschlichen Filterrückstand bezeichnete er auch als Kranke - und zwar als unheilbare Missgeburten:


"Die Krankhaften sind des Menschen grosse Gefahr: ... Die von vornherein Verunglückten, Niedergeworfnen, Zerbrochnen - sie sind es, die Schwächsten sind es, welche am Meisten das Leben unter Menschen unterminiren, welche unser Vertrauen zum Leben, zum Menschen, zu uns am gefährlichsten vergiften und in Frage stellen."

Machen wir es kurz: Die Guten sind laut Nietzsche die (arischen) Aristokraten und die Schlechten, das ist der (nicht arische) Pöbel.


Der Vollständigkeit halber bzw. um Nietzsche gerecht zu werden, sollte ich an dieser Stelle noch darauf hinweisen, dass er die Begriffspaare "gut/schlecht" und "gut/böse" voneinander trennte. Ich sehe aber keine Veranlassung, auf diese Unterscheidung hier genauer einzugehen, weil sich "böse" und "schlecht", nach meinem Dafürhalten ohne Deutungs- und Erkenntnisverlust synonym verwenden lassen.


 

Das Gute und das Schlechte

Moralische Werturteile und daraus abgeleitete Handlungsnormen werden für gewöhnlich quasi binär gefällt: Was gut ist, ist geboten, was schlecht ist, ist verboten, und alles irgendwie Neutrale ist erlaubt. Verschiedene Moraltheorien kommen jedoch teilweise zu unterschiedlichen Urteilen; so kann die Folter beispielsweise im Konsequentialismus situativ geboten sein, wenn damit grösseres Leid verhindert wird; in den meisten anderen Theorien gilt sie als kategorisch verboten weil würderaubend o.ä.


Während nun aber die Moralphilosophen für ihre Theorien mit einer in sich kohärenten Systematik aus Erklärungen und Begründungen arbeiten um zu zeigen, wie man handeln soll, nahm Nietzsche einen gänzlich anderen Weg: Für ihn war vereinfacht dargestellt gut, was die Guten von sich aus machen, und schlecht, was die Schlechten als Reaktion darauf machen. Die Voraussetzungen für die Güte der vornehmen Herren sah Nietzsche in diesen ihren Eigenschaften:


"...eine mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Gesundheit, sammt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele und Alles überhaupt, was starkes, freies frohgemuthes Handeln in sich schliesst."

Man handelt nach Nietzsche also gut, wenn man seinen animalischen Instinkten folgt, und schlecht, wenn man gegen diese Instinkte arbeitet. Aber für ihn war nicht ausreichend, diese Doktrin bloss an die Instinkte zu knüpfen, er betrachtete sie auch mit der naturgegebenen Stellung des Menschen in seiner Gesellschaft verwoben: Nur der Aristokrat kann per Geburtsrecht gut handeln, weil überhaupt erst er den Begriff "gut" in seinem gemäss Nietzsche korrekten Sinne in die Welt gesetzt und aktiv geprägt hat.


 

Die Umwertung der Werte

Wie eingangs schon angedeutet, kamen nun aber die Religionen ins Spiel. Sie sagten: "Moment mal, irgendwie ist das nicht so ganz in Ordnung, dass da ein paar wenige Herrschende den grössten Teil der Gesellschaft unterdrücken und sich dabei auch noch schampar gut finden - das Gegenteil ist der Fall!"


Diese "Umwertung der Werte" ist ein zentrales Konzept in Nietzsches Philosophie (wenn man ihn denn wirklich der Philosophie zuzurechnen geneigt ist). Er erkannte nachgerade den kulturellen Niedergang darin, dass sich die Religionen, allen voran die Juden, für die Armen und Schwachen einsetzten und diese den Guten zurechneten, ihre Unterdrücker und Ausbeuter jedoch als Böse abqualifizierten.


"Alles, was auf Erden gegen 'die Vornehmen', 'die Gewaltigen', 'die Herren', 'die Machthaber' gethan worden ist, ist nicht der Rede werth im Vergleich mit dem, was die Juden gegen sie gethan haben: die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwerthung von deren Werthen ... Genugthuung zu schaffen wusste..."

Mehr noch: Nietzsche war mit seiner Haltung, womöglich unbewusst, ein Anhänger der antisemitischen Verschwörungstheorie, wonach das Judentum die Weltherrschaft anstrebe. Denn nach ihm hätten die Juden den Jesus bloss als Instrument erfunden, um die von langer Hand geplante Umwertung der Werte durchzudrücken und damit endlich Rache an der Aristokratie, an ihren Peinigern zu üben. Er schrieb:


"Gehört es nicht in die geheime schwarze Kunst einer wahrhaft grossen Politik der Rache, ... dass Israel selber das eigentliche Werkzeug seiner Rache vor aller Welt ... an's Kreuz schlagen musste, damit 'alle Welt', nämlich alle Gegner Israel's unbedenklich gerade an diesem Köder anbeissen konnten?"

Nietzsche war von dieser (wie er immerhin einräumte: erfolgreichen) Umwertung der Werte nicht eben begeistert, er bezeichnete sie als "Vergiftung" und machte aus seiner Abscheu keinen grossen Hehl:


"Alles verjüdelt oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends..."
 

Die Herren- und die Sklavenmoral

Wie wir nun gesehen haben, betrachtete Nietzsche das ritterlich-aristokratische "gut" als richtiges "gut", weil dieses Urteil von den Guten, den Mächtigen, den Vornehmen schöpferisch in die Welt gesetzt worden sei. Diese Deutung von "gut" ist Gegenstand der aktiven, mithin selbst- und lebensbejahenden "Herrenmoral".


Diametral entgegen stehe das falsche "gut" der pöbelhaften, religiösen Wertungsweise, das bloss auf der reaktiven, von Hass und Groll getriebenen Verneinung respektive Umkehrung des ritterlich-aristokratischen Werturteils der "Herrenmoral" beruhe. Diese umgewertete Deutung von "gut" ist Gegenstand der "Sklavenmoral".


Die vornehmen Begründer der Herrenmoral setzte Nietzsche fasziniert mit Raubtieren gleich:


"...sie treten in die Unschuld des Raubthier-Gewissens zurück, als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheusslichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermuthe und seelischen Gleichgewichte davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei..."

Er machte auch die vollendete Zierde dieses Standes aus:


"Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubthier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen..."

Und das Gegenstück, die Sklavenmoral? Für deren Vertreter empfand Nietzsche nur Verachtung:


"Diese Träger der niederdrückenden und vergeltungslüsternen Instinkte, die Nachkommen alles europäischen und nicht europäischen Sklaventhums, aller vorarischen Bevölkerung in Sonderheit - sie stellen den Rückgang der Menschheit dar! Diese 'Werkzeuge der Cultur' sind eine Schande des Menschen, und eher ein Verdacht, ein Gegenargument gegen 'Cultur' überhaupt!"

Die Raubtiere unter den Menschen, die Herrenmoralisten, das waren für Nietzsche die Starken und Mächtigen, und ihnen sei kein Vorwurf zu machen, wenn sie ihre Stärke und Macht ausspielten. Man könne vom Raubvogel nicht verlangen, sich keine Lämmer zu holen, denn dies liege in seiner Natur. Genauso widersinnig sei es, vom Lamm Stärke zu verlangen, da Schwäche in dessen Natur liege.


Nietzsche beschränkte sich aber nicht auf diese aus seiner Sicht natürliche Rangordnung, nein, er musste auch noch zünftig nachtreten, indem er die Schwachen, die pöbelhaften Sklavenmoralisten für ihre Ohnmacht geisselte, ihnen jedes Recht absprach, ihre Situation auch nur zu beklagen. Kurzum: Der Vergewaltiger ist gemäss Nietzsche gut, weil er doch bloss seine Raubtiernatur auslebt, die "blonde Bestie" von der Leine und toben lässt - und das Opfer hat gefälligst zu schweigen und sich zu fügen.


 

Der Übermensch

Nietzsche meinte, die menschliche Spezies müsse wieder aus dem Gefängnis zivilisatorischer Zwänge ausbrechen, sich von den Fesseln der (umgewerteten) Moral lösen, um zu einem wahrhaft souveränen Individuum hochzugedeihen, zum autonomen übersittlichen Menschen einer aussermoralischen Ära. Erst ein solches Individuum sei wirklich Herr seines freien Willens, und es erwecke Furcht und Ehrfurcht (nachfolgendes Zitat stammt nicht aus der "Genealogie", sondern aus "Ecce homo").


"Das Wort 'Übermensch' zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgerathenheit, im Gegensatz zu 'modernen' Menschen, zu 'guten' Menschen, zu Christen und andren Nihilisten..., will sagen als 'idealistischer' Typus einer höheren Art Mensch, halb 'Heiliger', halb 'Genie'…"

Seine ungezügelte und bedingungslos ausgelebte Freiheit sei dem Übermenschen - dieser ritterlich-aristokratischen, blonden Herrscherbestie - gemäss Nietzsche zum dominierenden Instinkt geworden, und der Übermensch nenne diesen Instinkt sein Gewissen. Selbstredend ist "Gewissen" hier nach dem Wertmassstab der Herrenmoral zu interpretieren, denn das "schlechte Gewissen" ist nach Nietzsche ein Gegenstand der verweichlichten, verzärtlichten Sklavenmoral, deren Anhänger ausradiert gehörten (er beschrieb 1884 in einem Notizbuch die "Vernichtung von Millionen Missrathener").


"...und wie ihm, mit dieser Herrschaft über sich, auch die Herrschaft über die Umstände, über die Natur und alle willenskürzeren und unzuverlässigeren Creaturen nothwendig in die Hand gegeben ist..."

Ein kleiner Hinweis für jene, die hier an die Darwin'sche Evolutionstheorie denken: Darwin behauptete nicht, dass sich in der Natur stets die Starken gegen die Schwachen durchsetzen. Seine Theorie des "Survival of the Fittest" bedeutet vielmehr, dass die Passendsten überleben, d.h. jene Spezies, die den höchsten Grad an Anpassung an die Umwelt oder die beste Reproduktionsfähigkeit aufweist. Die These von Nietzsche wird also durch Darwin eben gerade nicht gestützt, das Gegenteil ist der Fall, denn Nietzsches Übermensch passt sich nicht an, weil Anpassung ein Zeichen von Schwäche sei.


 

Die Grausamkeit

In früheren Zeiten durfte ein Gläubiger seinem säumigen Schuldner zur Strafe auch gut mal eben ein paar Batzen Fleisch aus dessen Leib herunterschneiden oder dessen Frau und/oder Kinder schänden, wenn dieser seine Schulden nicht materiell begleichen konnte. Und weshalb? Weil man laut Nietzsche unterstellte, der Geschädigte (Gläubiger) zöge grosses Wohlgefallen aus dem Schmerz des Schädigers (Schuldner), und das hätte dann einen kompensatorischen Effekt gehabt - Obligationenrecht from hell. Man wusste damals eben noch, wie es den Mächtigen vermittels der Ausübung ihres naturgemässen Herren-Rechtes grosse Lust bereitete, die Machtlosen als menschliche Hüpfburgen zu betrachten und nutzen, denn schliesslich wurde damit das innere Raubtier gefüttert und bespielt.


"...bis zu welchem Grade die Grausamkeit die grosse Festfreude der älteren Menschheit ausmacht, ja als Ingredienz fast jeder ihrer Freuden zugemischt ist; wie naiv anderseits, wie unschuldig ihr Bedürfniss nach Grausamkeit auftritt ..., zu dem das Gewissen herzhaft Ja sagt!"

Gerade unter Aristokraten und in "vornehmen" Haushalten sei es bis in jüngste Zeit, so Nietzsche, eine Vollständigkeitsbedingung, geradezu die "conditio sine qua non" festlicher Anlässe gewesen, Folter, Erniedrigungen, Hinrichtungen oder dergleichen mehr als entzückende Zerstreuungen feilzubieten, und so schlussfolgerte er:


"Leiden-sehn thut wohl, Leiden-machen noch wohler - das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz..."

In der Grausamkeit sah Nietzsche eine natürliche Eigenschaft des Menschen und wegen eben dieser Natürlichkeit hielt er für richtig, dass sich der Mensch ihr hingab, damit sein Leben heiterer werde. Der Mensch müsse sich seiner Instinkte nicht widersetzen und sicher kein schlechtes Gewissen haben:


"...ich meine die krankhafte Verzärtlichung und Vermoralisirung, vermöge deren das Gethier 'Mensch' sich schliesslich aller seiner Instinkte schämen lernt."

Immerhin räumte er ein, dass womöglich das Schmerzempfinden früherer Generation weniger stark ausgeprägt war bzw. die Empfindlichkeit mit zunehmender Zivilisierung oder Moralisierung sukzessive ansteige und man deshalb heute strenger über Grausamkeiten urteile. Als Beleg führte er an:


"Vielleicht that damals ... der Schmerz noch nicht so weh wie heute; wenigstens wird ein Arzt so schliessen dürfen, der Neger (diese als Repräsentanten des vorgeschichtlichen Menschen genommen) bei schweren inneren Entzündungsfällen behandelt hat, welche auch den bestorganisirten Europäer fast zur Verzweiflung bringen; bei Negern thun sie dies nicht."
 

Die Gerechtigkeit und das Recht

Im Streben nach Gerechtigkeit sah Nietzsche bloss reaktive Affekte, einen von Hass, Neid, Missgunst, Argwohn und Rachegelüsten genährten Groll vermeintlich gerechter Sklaven gegenüber vermeintlich ungerechten Herren. Auch hierin fand er eine Umwertung von Werten, weil Nietzsche meinte, aktive Affekte und nur diese müssten geschätzt werden:


"...wie Herrschsucht, Habsucht und dergleichen."

Zwar hielt Nietzsche das (aktive) Gerecht-sein für ein positives Verhalten, er sah es aber im Menschen nicht breit verteilt, sondern betrachtete es als Ausnahmeerscheinung, da Geschädigte ihren Schädigern gegenüber in aller Regel doch sicher keine Gerechtigkeit und Gnade walten liessen.


"Thatsächlich hat deshalb zu allen Zeiten der aggressive Mensch, als der Stärkere, Muthigere, Vornehmere, auch das freiere Auge, das bessere Gewissen auf seiner Seite gehabt..."

Nietzsche fand sich in seiner Haltung mit Verweis auf die Geschichte des Rechts bestätigt, das seiner Auffassung nach stets ein Instrument für den Kampf gegen die reaktiven Gefühle gewesen sei. Die Aktiven, Starken und Mächtigen seien es gewesen, die ein Bedürfnis nach Recht gehabt hätten, um die hasserfüllten Schwachen mit ihren unsinnigen Gerechtigkeitsvorstellungen zu züchtigen. Recht und Unrecht kann es nach Nietzsche überhaupt erst geben, wenn eine Rechtsordnung errichtet worden ist:


"An sich von Recht und Unrecht reden entbehrt allen Sinns, an sich kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten nichts 'Unrechtes' sein, insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter."

Eben hier kommt Nietzsches Idee von der Natur des Menschen klar und deutlich zum Ausdruck. Sie deckt sich mit jener von Thomas Hobbes, der schon im 16. Jahrhundert im "Leviathan" schrieb: "Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf." In dieser sogenannten Fassadentheorie besitzt der Mensch nur eine durch Kultur und Zivilisation errichtete, dünne moralische Fassade, dahinter verbirgt sich seine eigentliche, destruktive und egoistische Raubtiernatur.


Aus dieser vermeintlichen menschlichen Natur leitete Nietzsche ab, dass jede Rechtsordnung nur temporär sein dürfe, ein Ausnahmezustand, weil sie den Wolf in einen Schafspelz zwinge, zu einem Schaf unter Schafen gleichmache, und ihn damit seines eigentlichen Lebenswillens beraube. Und deshalb sei jede egalitaristische Rechtsordnung...


"...ein lebensfeindliches Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts."
 

Der Wille zur Macht

In Nietzsches Gedanken des Willens zur Macht haben schon viele Menschen viel hinein- und wie ich meine auch überinterpretiert, denn im Grunde sagte Nietzsche ziemlich deutlich, was er damit meinte:


"Aber alle Zwecke, alle Nützlichkeit sind nur Anzeichen davon, dass ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat..."

Der "Wille zur Macht" ist demnach das oberste, alles ordnende Prinzip der organischen Welt, ein unablässiges "Überwältigen" und "Herrwerden". Erst wenn die stärkere Macht gegen die schwächere obsiege, könne überhaupt erst Nützliches, Sinnvolles, Funktionelles entstehen. Und Macht, das ist ja definitionsgemäss der Zwang zur Unterordnung unter die eigenen Ansichten und Wünsche, ein Raubzug auf die Selbstbestimmung der Ohnmächtigen. Nietzsche verehrte dieses Prinzip zweifellos:


"Die Grösse eines 'Fortschritts' bemisst sich sogar nach der Masse dessen, was ihm Alles geopfert werden musste; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Species Mensch geopfert - das wäre ein Fortschritt..."

In der Demokratie sah er eine niederzuringende Gegnerin dieses Prinzips, weil die Demokratie die "Anpassung" und mithin eine reaktive Haltung in den Vordergrund stelle, ein "sich anpassen an äussere Umstände". Damit werde das eigentliche Wesen des Lebens an sich verkannt, denn der spontan angriffige und übergriffige "Wille zur Macht" sei es, der die äusseren Umstände forme. Die inneren und äusseren Umstände könnten sich aber nur harmonisch-kreisläufig ineinanderfügen, wenn das Innen im Aussen wirke, wenn der innere Raubtierinstinkt zu äusseren Raubtierhandlungen führe.


Nietzsche stellte die Hypothese auf: Schlechtes Gewissen sei nicht das Bedauern einer unmoralischen Tat, sondern es sei das emergente Phänomen nicht frei ausgelebter Instinkte, die sich nun nach innen Raum verschafften, da ihnen die Aggression im Aussen durch Gesellschaft und Moral verwehrt bliebe. Das schlechte Gewissen sei demnach sozusagen eine geistige Autoimmunerkrankung, in der das Raubtier im Menschen sich gegen die Gitterstäbe seines Käfigs gesellschaftlicher Konventionen werfe, der ihn von der freien Ausübung seines Willens zur Macht abhalte.


"Mit ihm aber war die grösste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich: als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit, ... gegen die alten Instinkte, auf denen ... seine Kraft, Lust und Fruchtbarkeit beruhte."
 

Der Wille zur Wahrheit

Im Willen zur Wahrheit sieht Nietzsche den Willen zur Macht bedroht. Doch was ist er, dieser "Wille zur Wahrheit"? Nietzsche unterstellte einerseits den Religionen, Gott zur Wahrheit zu erheben und aus dieser behaupteten und geglaubten Wahrheit allerlei sklavenmoralische Forderungen an die Gläubigen zu richten. Das ist einer der wenigen Punkte, in denen ich ihm zustimme; auch ich hatte mich ja schon ähnlich über Religiosität ausgelassen.


Andererseits zog Nietzsche jedoch auch die Wissenschaft in Zweifel, weil diese ebenfalls an Wahrheit glaube respektive den Glauben an die Wahrheit zur Voraussetzung habe. Er selbst anerkannte aber bloss eine einzige Wahrheit, nämlich jene des Willens zur Macht als Selbsterhaltungstrieb allen Lebens.


"Das sind noch lange keine freien Geister: denn sie glauben noch an die Wahrheit..."

Der Mensch könne erst wirklich frei sein, wenn er sich vom Willen zur Wahrheit löse, d.h. vom Glauben daran, dass es so etwas wie Wahrheit überhaupt gebe:


"'Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt' ... Wohlan, das war die Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit selbst der Glaube gekündigt..."

Fun fact: Das von Nietzsche zitierte Motto "Nichts ist wahr, alles ist erlaubt" hat seinen Ursprung also bewiesenermassen nicht im Game "Assassin's Creed". Es wird Hasan-i Sabbah zugeschrieben, einem im 11. Jahrhundert geborenen religiösen Fundamentalisten und Gründervater der Assassinen. Diese waren eine schiitisch-islamische Glaubensgemeinschaft, die - mit den Waffen ihrer Zeit - ähnliche Dinge trieb wie al-Qaida in der Moderne (einen Teil des ungläubigen Bevölkerungsüberschusses abschöpfen, indem man mit gekaperten Flugzeugen Hochhäuser sodomisiert etc.). Das Motto bildet folglich schon seit bald einem Jahrtausend den gedanklichen Leuchtturm für allerlei verblendeten Terror und Mord.


Jedenfalls sah Nietzsche u.a. mit der Wissenschaft und ihrer Wahrheitsvoraussetzung geradezu die Apokalypse herandämmern. Merkwürdigerweise setzte er sich durch diese Betrachtungsweise mit religiösen Fanatikern, die er an sich ziemlich pauschal verachtete, ins gleiche Ideologieboot.


"Man sehe sich die Zeiten eines Volkes an, in denen der Gelehrte in den Vordergrund tritt ... [es] bedeutet niemals etwas Gutes: so wenig als die Heraufkunft der Demokratie, der Friedens-Schiedsgerichte an Stelle der Kriege, der Frauen-Gleichberechtigung, der Religion des Mitleids und was es sonst Alles für Symptome des absinkenden Lebens giebt."
 

Der Sinn des Lebens

Gegen Ende der "Genealogie" machte Nietzsche noch seinen Vorschlag für den Sinn des Lebens:


"...welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, dass in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewusstsein gekommen wäre?"

Er meinte demnach, der Mensch müsse sich gänzlich vom Konzept einer Wahrheit lösen, weil dadurch notwendig auch die (Sklaven-) Moral zugrunde ginge, die gleichsam Wahrheit für sich beanspruche. So kehre der Mensch endlich zu seiner instinktiven Raubtiernatur zurück und vervollkommne seine Spezies.


Die vormoralische blonde Bestie, die sich in der moralischen Zeit von geisteskranken, rachsüchtigen Sklaven aus Religion und Wissenschaft mit dem Gift einer umgewerteten Moral verseuchen liess, würde also ihren Käfig sprengen und in der aussermoralischen Ära tollwütig über die Welt herrschen. Yay.




Abrechnung

Nietzsche irrte sich auf dermassen vielen Ebenen, dass man gar nicht so recht weiss, wo man eigentlich mit dem Haareraufen anfangen soll. Beim Wahrheitsbegriff vielleicht? Na schön: Es ist völlig unerheblich, ob es eine vom Menschen unabhängige Wahrheit gibt. Womöglich leben wir in einer Simulation und müssten wie Neo erst mal die rote Pille futtern, um den Schleier herunterzureissen. Womöglich haben wir als Spezies gar nicht das nötige Equipment, um die Wahrheit zu erfahren. Aber: Wir müssen mit dem arbeiten, was wir haben - mit jener Erkenntnis, zu der uns unsere Sinne befähigen.


Die Welt, wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Wahrheit und damit die einzige Wahrheit, die für uns je zählen kann. Ich sehe auf die Tastatur hinunter und erkenne zehn hektische Finger (der Vorzug eines Berufs ausserhalb des holzverarbeitenden Gewerbes): Das ist Wahrheit. Kater Garfield streicht um meine Beine, ich kraule seinen Kopf: Das ist Wahrheit - für Mensch und Tier. Draussen regnet es gerade nicht mehr: Das ist Wahrheit. Die Erde dreht sich um sich selbst und um die Sonne: Das ist Wahrheit. Und von solchen absoluten Wahrheiten gibt es noch ein paar Gazillionen weitere.


Nietzsches Behauptung, es gebe so etwas wie Wahrheit nicht, ist so ziemlich der gröbste kontraintuitive Unfug, den man sich ausdenken kann. Wahr ist, was wahrnehmbar der Fall ist - mehr Erkenntnistheorie braucht kein Mensch. Selbst wenn die Realität nur simuliert wäre (in einem unfassbar leistungsfähigen "Deep Thought"-Grossrechner), so wäre sie doch in dem Sinne wahr, dass sie Gegenstand einer wahren Simulation ist. Und selbst wenn unsere Sinne ein verfälschtes Bild der Wahrheit lieferten, so hätten wir doch nie ein anderes. Hat uns dieses Gedankenspiel nun irgendwie weitergebracht? Nein.


Gehen wir über zum zweiten Grundlagenirrtum von Nietzsche, zur Prämisse von der Raubtiernatur des Menschen, der guten alten hobbes'schen Fassadentheorie. Diesem Trugschluss wird seit einigen Jahren deutlich widersprochen, insbesondere vom Primatologen und Verhaltensforscher Frans de Waal sowie vom Historiker Rutger Bregman in dessen sehr empfehlenswertem Buch "Im Grund gut. Eine neue Geschichte der Menschheit." Darin zerpflückt er nicht zuletzt auch die fingierten Experimente von Milgram und Zimbardo, mit denen die Fassadentheorie hätte bewiesen werden sollen.


Aber die geneigte Leserschaft ist gerne auch aufgerufen, in sich selbst hineinzuhorchen, um die Natur des Menschen zu ergründen; wir sind ja glücklicherweise dieser Spezies angehörig und mithin passende Testsubjekte. Wohlan: Würdest Du Artgenossen ausnutzen, beherrschen, quälen, foltern, verstümmeln, schänden, vergewaltigen, ermorden wollen, nur so zum Spass? Bereitet es Dir Lust, andere Geschöpfe leiden zu sehen? Verweigerst Du Hilfe, wenn ein Mensch oder Tier Hilfe benötigt?


Ich behaupte: Nahezu alle Menschen, die bei einigermassen guter geistiger Gesundheit sind, verneinen diese und ähnliche Fragen. Sie tun das nicht, weil es ihnen nur so anerzogen wurde oder um Sanktionen zu vermeiden. Sie tun es intuitiv, weil der Mensch eine genuin soziale Spezies und als solche zur Erhaltung und Entwicklung ihrer Art notwendig auf soziales und moralisches Verhalten angewiesen ist.


Deswegen hat sich im Menschen evolutionär eine dafür grundlegende Fähigkeit herausgebildet: Das Vermögen zur Empathie. Genau dieses Vermögen ist das biologische Fundament der moralischen Urteile "gut" und "schlecht", die wir Menschen im Sinne von Nietzsches Sklavenmoral instinktiv zu fällen in der Lage sind. Wir bräuchten dazu nicht mal eine Moraltheorie - wir fühlen, was richtig und falsch ist.


Nietzsches Übermensch ist also nicht die Natur und schon gar nicht ihre Krone, er ist ein historisches Zerrbild der Natur, das in einer völlig falschen Deutung der Geschichte wurzelt. Ja, die Gesellschaften waren über lange Zeitstrecken hierarchisch organisiert. Und ja, viele Kriege wurden geführt, Sklaverei betrieben usw. usf. Aber: Die meiste Zeit über waren die meisten Menschen nicht Herrscher, sondern Beherrschte, und führten nicht Krieg, sondern lebten in Frieden. Wenn man denn wirklich die Geschichte der Menschheit als Massstab zur Bestimmung ihrer Natur verwenden will, dann ist diese Natur gerade das Gegenteil des Willens zur Macht, nämlich der Wille zur Moral, zur kooperativen Gesellschaft.


Mit den Worten von Albert Schweitzer (aus seiner Nobelpreisrede 1954):


"Der Übermensch leidet aber an einer verhängnisvollen geistigen Unvollkommenheit. Er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Besitz übermenschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf. [...] Was uns eigentlich zu Bewusstsein kommen sollte und schon längst zuvor hätte kommen sollen, ist dies, dass wir als Übermenschen Unmenschen geworden sind."

Unter dem Strich glaube ich, dass Nietzsche mit der "Genealogie" eine aus seiner Sicht logisch schlüssige Begründung dafür suchte, dass die Welt doch besser so bleiben sollte, wie sie schon immer war: Streng hierarchisch, feudalistisch, unindustrialisiert, unwissenschaftlich, unzivilisiert, unmoralisch. Mit nur einer Ausnahme: Die Religionen sollten sich doch bitte schleunigst wieder verpissen.


Weshalb war Nietzsche dergestalt konservativ? War er zunehmend verwirrt und darob unfähig, mit den umwälzenden Veränderungen seiner Zeit umzugehen? Hatte er wegen seines familiären Hintergrunds einen Hass auf Religion, den er unbedingt noch externalisieren musste, bevor ihm das Hirn endgültig wegfaulte? Litt er unter Minderwertigkeitskomplexen - einem Hooligan gleich, der wild drauflosprügelt, weil er selbst es nie zum von ihm verehrten Fussballstar, zum Übermenschen bringen wird?


Ich weiss es nicht. Ich beobachte aber, wie sich die Konservativen unserer heutigen Zeit mit ähnlichen Argumenten gegen Veränderungen stemmen, wie jede moralische Erwägung zurückgewiesen wird, wie Rassismus und Antisemitismus noch immer schwelen, wie die Gleichberechtigung von Homosexuellen, Frauen usw. mehr oder weniger subtil bekämpft wird, wie irgendwelchen Autokraten führersehnsüchtig hinterhergespeichelt wird, wie Wissenschaft und Wahrheit relativiert oder marginalisiert werden, wie die Demokratie auf dem Umweg über die Wirtschaft ausgehöhlt und untergraben wird.


Mit zwei wesentlichen Unterschieden zu Nietzsche: Erstens biedern sich die Konservativen unserer Zeit i.d.R. heuchlerisch bis fundamentalistisch bei einer Religion an, und zweitens wäre Nietzsche mit der Umweltzerstörung und ihrer bedrohlichsten Folge (Klimawandel) nicht einverstanden gewesen. Heisst für mich: Kleine Schnittmenge mit Nietzsche, keine Schnittmenge mit den Konservativen unserer Zeit.


nachschlag

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