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Reden wir ein wenig übers Impfen (Teil 2)

Aktualisiert: 2. März 2021

Sind Impfungen überhaupt wirksam und wenn ja, wie wird diese Wirksamkeit eigentlich bestimmt? Nachdem wir im ersten Teil der Beitragsreihe allerlei Verschwörungstheorien als gaga deklarieren konnten, wenden wir uns nun Handfesterem zu.


Statistische Indizien

Ein Hauptargument gegen Impfungen besteht in der Behauptung, es gebe ganz allgemein keinen wissenschaftlichen Nachweis zur Wirksamkeit. Und wenn die Wirksamkeit nicht wissenschaftlich belegt sei, solle man vorsichtshalber doch besser darauf verzichten. Sehen wir uns zur Verifizierung oder Falsifizierung dieser Behauptung doch mal das Statistikmaterial zu drei Infektionskrankheiten an:

  • Pocken: Das Pockenvirus ist für den Menschen eine ziemlich üble Sache, da eine unbehandelte Infektion in etwa 30% der Fälle tödlich verläuft. Schätzungen zufolge starben alleine im Europa des 19. Jahrhunderts jährlich etwa 400'000 Menschen an Pocken, ein Drittel der Überlebenden erblindete irreversibel. Während der letzten zwei grossen Pockenepidemien in Deutschland (1870/1873) fanden mehr als 180'000 Menschen den Tod. Ein Vakzin wurde Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt und ab dem 19. Jahrhundert begann man in einzelnen Ländern und Regionen die Bevölkerung zu impfen. Weltweit grosse Impfkampagnen fanden schliesslich ab den 1960er Jahren statt, ungefähr 15 bis 20 Jahre später waren die Pocken global ausgerottet, sodass seither keine Impfung mehr erforderlich ist und auch keine 400 Millionen Menschen mehr daran sterben wie noch im gesamten 20. Jahrhundert.

  • Masern: Das Masernvirus ist vor allem für Kinder gefährlich, da bei 20 bis 30% der Erkrankten Komplikationen auftreten, die in seltenen Fällen bleibende Schäden verursachen können. Die Letalität ist zwar gering, gleichwohl besteht eine Wahrscheinlichkeit von etwa 1:1'000 nach einer Infektion zu sterben. Der erste Impfstoff gegen das Masernvirus stand ab 1963 zur Verfügung, heute wird ein MMR-Dreifachimpfstoff verwendet, der auch gegen Mumps und Röteln schützt. Statistiken zu Maserninfektionen und darauf zurückgeführter Todesfälle zeigen ein klares Bild: Mit zunehmender Impfrate sinken die Zahlen, am Beispiel der USA: Vor der Zulassung von Masernimpfstoffen waren noch jährlich etwa 500'000 Infektionen zu verzeichnen, heute hingegen so gut wie keine mehr. Weltweit sterben aber in ärmeren Ländern noch immer jährlich über 100'000 Kinder an den Masern - und zwar vorwiegend in Ländern mit niedrigen Impfraten. Verglichen mit dem 20. Jahrhundert mit gegen 100 Millionen Maserntoten ist das zwar nur noch ein Bruchteil, aber dennoch eine unerträglich hohe weil vermeidbare Zahl.

  • Polio (Kinderlähmung): Das Poliovirus führt in 95% der Fälle zu einem asymptomatischen Verlauf. In den übrigen Fällen gibt es vorübergehende Symptome, die bei etwa 75% der Erkrankten (überwiegend Kinder im Alter von drei bis acht Jahren) folgenlos ausheilen. In den restlichen Fällen kann entweder eine Hirnhautentzündung evtl. mit Folgeschäden oder, bei etwa 1% der Infizierten, auch Jahre nach der Infektion eine irreversible Lähmung mit einer Letalität zwischen 2 und 20% entstehen. In der Schweiz waren zwischen 1936 und 1956 jährlich im Schnitt über 1'000 Polio-Fälle zu verzeichnen. Ab Ende 1956 / Anfang 1957 wurde mit Impfungen begonnen, worauf die Infektionen sehr schnell abnahmen. Keine acht Jahre später gab es erstmals keine neuen Fälle mehr. Polio konnte mittlerweile in nahezu allen Ländern jeweils im Nachgang zu entsprechenden Impfkampagnen so gut wie eradiziert werden, obschon es in unregelmässigen Abständen in Ländern mit niedrigen Impfraten zu regional beschränkten Ausbrüchen kommt.


Unterschiedliche Interpretationen

Solcherlei Statistiken werden von Impfkritikern mit der Argumentation gekontert, es handle sich dabei höchstens um Korrelationen, die missbräuchlich als Kausalitäten interpretiert würden. Die wahren Gründe für den Rückgang von Fall- und Todeszahlen seien u.a. bessere Lebensbedingungen und als Folge davon stärkere Immunsysteme, höherer Wohlstand und damit verbundene Versorgung mit sauberem Trinkwasser, ein verändertes Gesundheitsbewusstsein und ganz allgemein verbesserte Hygienebedingungen. Ein Zusammenhang mit Impfungen wird bezweifelt oder gar kategorisch verneint.


Es ist wissenschaftlich völlig unstrittig, dass Faktoren wie Ernährung, Wohlstand oder Hygiene zur Eindämmung von Infektionskrankheiten beitragen. Auch die Wichtigkeit eines starken Immunsystems kann nicht genügend betont werden, denn es trägt üblicherweise zu milderen Krankheitsverläufen und einer tieferen Letalität bei. Demgegenüber ist zu bedenken, dass die genannten Faktoren bei einigen Viren wie Pocken, Masern oder Polio wenig bis gar nicht zu einer Reduktion von Ansteckungen beitragen können, denn diese Viren werden im menschlichen Organismus beherbergt und von Mensch zu Mensch hauptsächlich per Kontakt oder Tröpfcheninfektion übertragen. Einflussfaktoren abseits von Impfungen können also höchstens dazu beitragen, dass die Erkrankungen milder ausfallen und weniger Menschen daran sterben - nicht aber, dass sich überhaupt erst weniger Menschen anstecken. Zudem basiert die Ablehnung jeden Zusammenhangs mit Impfungen auf der Annahme, dass sich die stattdessen genannten Ursachen per Zufall stets jeweils etwa plusminus zeitgleich mit Impfkampagnen eingestellt und auch über ungefähr dieselbe Dauer ihre Wirkung entfaltet hatten.


Die Wirksamkeit von Impfungen aus der statistischen Beobachtung von Ansteckungs- und Todeszahlen abzuleiten ist in der Tat kein wissenschaftlich sehr überzeugendes Vorgehen. Gleichwohl kann diese Herangehensweise gewichtige Indizien liefern. Wir bemühen daher hier wieder Ockhams Rasiermesser: Wenn über lange Zeiträume in den meisten Fällen eine hohe Korrelation zwischen dem Einsatz von Impfstoffen und der Reduktion von Fall- und Todeszahlen der damit bekämpften Viren vorliegt, dann besteht die wahrscheinlichste Erklärung darin, dass eben diese Impfstoffe für die Reduktion ursächlich waren. Umso mehr noch, als gewisse Erreger seit dem Einsatz der entsprechenden Impfstoffe weltweit ganz oder annähernd ausgerottet werden konnten, auch und gerade in Regionen mit hoher Impfrate, wohingegen beispielsweise die Masern heutzutage vor allem in Regionen mit niedriger Impfrate noch ein Problem darstellen. Demgegenüber hat die von impfkritischer Seite aufgeführte Erklärung eine sehr viel geringere Wahrscheinlichkeit, wonach Impfungen in keinem Fall einen wie auch immer gearteten Beitrag geleistet hätten, sondern ausschliesslich diverse andere Faktoren der wahre Grund seien für die Reduktion der Infizierten, Erkrankten und Toten und endlich die Ausrottung gewisser Viren.



Wirksamkeitsnachweis

Die Statistik deutet wie oben gesehen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Wirksamkeit von Impfungen hin. Nun stellen wir uns die Frage, ob es auch unmittelbarere Nachweise gibt. Dazu sollten wir zunächst kurz die grundsätzliche Funktionsweise eines Impfstoffes betrachten. Vakzine enthalten abgeschwächte noch vermehrungsfähige (Lebendimpfstoff) oder abgetötete resp. inaktivierte (Totimpfstoff) Erreger bzw. Teile von Erregern. Mit der Impfung soll im Unterschied zur "natürlichen Infektion", die eine Erkrankung nach sich ziehen kann, eine asymptomatische Immunantwort provoziert werden. Im Wesentlichen wird im Körper mit einer abgeschwächten Erregerform derselbe natürliche Mechanismus getriggert, der auch beim "wilden" Erreger anspringt: Das Immunsystem bildet Antikörper und T-Helferzellen.


Damit ein Impfstoff von den zuständigen Behörden - in der Schweiz ist dafür die öffentlich-rechtliche Swissmedic zuständig - zugelassen wird, ist herstellerseitig ein aufwändiges und sich über mehrere Jahre erstreckendes Verfahren erforderlich. Für den Nachweis von Wirksamkeit, Sicherheit und Qualität muss der Hersteller zuerst in der vorklinischen Phase erreichen, dass sich der Impfstoff im Tierversuch bewährt. Dergestalt erfolgreiche Kandidaten werden dann im Rahmen der drei klinischen Phasen an zunehmend grösseren menschlichen Probandengruppen und über immer längere Zeiträume getestet. In der dritten und letzten Phase wird der Impfstoff in aller Regel an mehreren tausend gesunden Freiwilligen über vier bis sieben Jahre getestet, um die Wirksamkeit zu belegen und Wechselwirkungen mit anderen Arzneien oder Nebenwirkungen zu ermitteln bzw. auszuschliessen. Ist auch diese Phase erfolgreich bewältigt worden, folgen nach Zulassung und Einführung des Impfstoffes häufig noch sogenannte Nachmarktstudien durch den Hersteller. Ergänzend beschäftigt sich auch die unabhängige Wissenschaft weiterhin mit den Impfstoffen.


Der Nachweis der Wirksamkeit wird zudem über die Analyse der Immunantwort des Körpers auf den Impfstoff erbracht, d.h. vereinfacht gesagt über das Ausmass der per Impfung gebildeten Antikörper. Dies ist nun aber dahingehend problematisch, dass wegen der immensen Komplexität des menschlichen Immunsystems keine absoluten Aussagen im Sinne von "wenn die Konzentration an Antikörpern grösser als X ist, dann schützt der Impfstoff zu 100% vor einer Infektion" möglich sind. Man ist daher de facto gezwungen, aufgrund von Test- und Laborergebnissen sowie auf Basis der Erfahrungswerte bezüglich des Zusammenhangs von Infektionen und Antikörpern Rückschlüsse auf die Wirksamkeit zu ziehen. Die Schar der Impfkritiker reitet auf dieser Problematik herum und fordert den absoluten und zweifelsfreien direkten wissenschaftlichen Beweis. Ansonsten sei Impfen ein wildes Spiel mit dem Feuer. Dabei wird jedoch geflissentlich ignoriert, dass die Antikörperkonzentration nur ein einziger (wenn auch wichtiger) Parameter in der Bestimmung der Wirksamkeit von Impfstoffen ist und es daneben ja auch noch ein immens aufwändiges Zulassungsverfahren mit etlichen, jahrelangen Versuchsreihen gibt. Und man lässt beiseite, dass es in der Medizin kaum je absolute Gewissheiten und Ursache-Wirkungs-Ketten mit 100%-Erfolgsgarantie gibt, sei es nun bei Arzneien, Medizinalprodukten oder Behandlungen.*


Zugegebenermassen traten in der Geschichte der Impfungen auch unrühmliche Ereignisse in Sachen Wirksamkeit auf. So ist es beispielsweise bis heute nicht gelungen, einen verlässlichen Impfstoff gegen die Tuberkulose zu finden. Auch Grippeimpfungen gegen die relativ schnell mutierenden Erreger der Influenza weisen eine stark um einen Mittelwert von 50% schwankende Wirksamkeit auf. Allein: Bloss weil sich einzelne Erreger hartnäckig weigern, dass ihnen mit Impfungen der präventive Garaus gemacht wird, ist beileibe kein schlagkräftiges Argument für die grundsätzliche Ablehnung von Impfungen, oder aber für die These, Impfstoffe seien allgemein unwirksam. Das ist nichts weniger als Sippenhaft. Nur weil es in fast jeder Familie einen schrägen Onkel gibt, neben dem niemand sitzen will, heisst das noch lange nicht, dass die ganze Familie ein Haufen asozialer Hartzer ist.


Wo haben wir Ockhams Rasiermesser? Ah, hier ist es: Weiter oben stellten wir bereits fest, wie sich die Wirksamkeit von Impfungen mit hoher Wahrscheinlichkeit aus statistischem Material zu Infektions-, Erkrankungs- und Todeszahlen ableiten lässt. Und in diesem Abschnitt hier können wir nun ergänzend schlussfolgern, dass sich eine nicht minder hohe Wahrscheinlichkeit für die tatsächliche Wirksamkeit aus dem aufwändigen Zulassungsprozedere für Impfstoffe ergibt. Die Behauptung, Impfstoffe seien nicht wirksam, ist somit letzten Endes genau das: Nur eine Behauptung. Und erst noch eine mit einer ziemlich vernachlässigbaren Wahrscheinlichkeit.



Kleiner Rausschmeisser

Reichlich drollig finde ich bei der Diskussion über die Wirksamkeit von Impfstoffen den Umstand, dass Impfkritiker bis Impfgegner nach meiner Wahrnehmung überdurchschnittlich häufig der Alternativmedizin im Allgemeinen und der Homöopathie im Speziellen zugetan sind. Einerseits wird da zwar mit Feuereifer der vermeintlich inexistente wissenschaftliche Beleg für die Wirksamkeit von Impfungen ins Feld geführt, andererseits ist beispielsweise punkto Homöopathie aber völlig unwichtig, dass es dafür nicht mal den Hauch eines Wirksamkeitsbeweises gibt, der wissenschaftlichen Kriterien genügen würde. Auf mich macht das nicht unbedingt den Anschein einer überdurchschnittlichen argumentativen Konsequenz.


Ich möchte hier aber keinesfalls unerwähnt lassen, dass ich absolut nichts gegen Alternativmedizin oder Homöopathie einzuwenden habe. Bloss weil es für deren Wirksamkeit bis heute wenige oder gar keine wissenschaftlichen Belege gibt, heisst das im Umkehrschluss meines Erachtens nicht zwingend, dass die Unwirksamkeit gegeben oder gar bewiesen ist. In diesem Zusammenhang darf auch der Verweis auf den Placeboeffekt nicht fehlen, für den man noch immer keine schlüssige Erklärung finden konnte. Es ist also nur recht und billig, sich in medizinischen Fragen einem holistischen Ansatz zu verschreiben und auch die Schulmedizin mit angemessener Kritik zu beäugen. Unredlich ist aus meiner Sicht jedoch, schulmedizinischen Massnahmen wie eben beispielsweise Impfungen deren Wirksamkeit in Abrede zu stellen, obschon es dafür nun wirklich mehr als genug Belege gibt.


Im ersten Teil dieser Beitragsreihe haben wir festgestellt, dass Verschwörungstheorien rund ums Thema Impfen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ziemlicher Bullshit sind. Dieser zweite Teil hat sich mit der Wirksamkeit von Impfungen befasst und sie mit gleichsam hoher Wahrscheinlichkeit als gegeben identifiziert. Im dritten Teil werden wir uns dann mit den Risiken von Impfungen beschäftigen.


 

* Kritiker und Gegner von Impfungen haben jedoch eine prima Lösung in petto, um die Wirksamkeit von Impfstoffen direkt nachzuweisen: Eine Doppelblindstudie, hurra! Die Studienanlage: Man nehme eine Gruppe Freiwilliger und gebe per Zufallsprinzip der einen Hälfte die Impfung und der anderen Hälfte nur ein Placebo, dann setze man alle Probanden dem Erreger aus und sehe was passiert. Wer einen auch nur halbwegs geeichten moralischen Kompass hat, begreift schon rein intuitiv, dass dieses Vorgehen keine besonders gute Idee ist. Etwas kräftigere Farben gewinnt das Bild, wenn man sich die Studie am Beispiel des Tollwutvirus vorstellt, woran nahezu 100% der Infizierten ausgesprochen unschön ableben.

Ethik geht irgendwie anders, nämlich etwa so: Es ist ethisch unzulässig, jemandem einen Schutz (hier: die Impfung) vorzuenthalten nur um zu sehen, ob und wie dieser Schutz eventuell wirkt. Die Verfechter der Doppelblindstudie vertreten dagegen die Meinung, dieses Ethikargument sei ungültig: Man könne erst nach einer solchen Studie wissen, ob die Impfung wirke und mithin ein vorenthaltener Schutz überhaupt gegeben war - und das sei auch nur dann der Fall, wenn die Impfung tatsächlich wirke. Sofern sich die Impfung als unwirksam erweise, sei kein Schutz vorenthalten worden und auch kein Bruch mit der Ethik entstanden. Vor der Studie könne man folglich nur von Unethik reden, wenn man die Wirksamkeit des Impfstoffes schon voraussetze und das sei ein klassischer Zirkelschluss. Wow.


Im Grunde ist diese Argumentationslinie der Impfgegner in etwa das Pendant zu Schrödingers Katze: Bevor das Experiment begonnen hat, befindet sich dessen moralische Bewertung in einem Zustand der Überlagerung aus "ethisch okay" und "ethisch voll nicht okay". Erst per Abschluss des Experiments liegt die moralische Bewertung vor. Aber das ist natürlich erbärmlicher Unfug, denn auch ein nur potenzielles Verhalten ist in sich unethisch, es muss dazu nicht zwingend auch noch realisiert werden. Wenn man jemandem mit einer Schrotflinte die Rübe wegpusten will, kann man schliesslich auch nicht erst nach dem Abdrücken sagen, ob das unethisch war, nämlich nur dann wenn es einen schönen Batzen rotes Kompott an der Wand hat. Man hätte ja auch daneben schiessen können. Nein, einfach nur nein.

nachschlag

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